„1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“: Deutsch-jüdische Entdeckungen im Archiv Bibliographia Judaica
Einst gegründet, um deutschsprachigen Jüdinnen und Juden nach dem Nationalsozialismus ihre Stimme zurückzugeben, dokumentiert das Archiv Bibliographia Judaica heute das Leben und Schaffen von über 20.000 jüdisch-deutschen Persönlichkeiten aus 200 Jahren Literatur, Politik, Wissenschaft, Musik und Kunst.
Es ist eine inspirierende Gleichzeitigkeit, dass die Datenbank Archiv Bibliographia Judaica (ABJ) im Jubiläumsjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ erscheint. Wir wollen Einblick geben, wie die Datenbank deutsch-jüdische Vielfalt sichtbar macht, wie sie historisch gewachsen ist und wie sie ein Fundament für die Weiterentwicklung des deutsch-jüdischen Erbes werden kann.
Mit über 16.000 Einträgen zu deutsch-jüdischen Persönlichkeiten aus 200 Jahren (weitere ca. 4.000 Einträge sind in Arbeit) präsentiert die ABJ-Datenbank eine Vielfalt, die in gewisser Weise einen Bogen zur aktuellen Online-Ausstellung „Jewersity“ von Jan Feldman schlägt: Im Rahmen des aktuellen Festjahres beantworten Jüdinnen und Juden in kurzen Videos die Fragen „Wer bist du? Und was bedeutet es für Dich jüdisch zu sein?“
Den gleichen Fragen kann man in der ABJ-Datenbank für die deutsch-jüdische Vergangenheit der Jahre 1750–1950 nachspüren. Anstelle von Videos bekommt man durch die Bibliographien, die die biographischen Informationen begleiten, Einblicke in die Interessen einzelner Personen und einen Überblick darüber, für was sie sich stark machten – egal, ob sie prominent waren oder nicht.
So können z.B. jüdische Biographien mit regionalhistorischem Interesse recherchiert werden: Wer wurde in Wien geboren? Wer starb in New York? Oder es kann nach Berufen oder Geburtsjahr gesucht werden. Auch findet sich in der Datenbank eine große Vielfalt prominenter Autorinnen und Autoren mit detaillierten biographischen Informationen und teilweise beeindruckend langen Bibliographien, die auf den im Original gescannten, in jahrzehntelanger Arbeit entstandenen Karteikarten der sogenannten „Werke-Kartei“ dokumentiert sind. Insgesamt sind es ca. 250.000 Karteikarten, auf denen die Werke aller Persönlichkeiten bibliographisch erfasst worden sind. Bei Paul Celan etwa sind es 378 eng beschriebene Karten, bei Max Brod sind es sogar 1.000, die in der Datenbank verlinkt sind.
Als prominent können die 1.300 Autorinnen und Autoren gelten, die bereits im einundzwanzigbändigen „Lexikon deutsch-jüdischer Autoren“ (De Gruyter Saur, 1992–2013) enthalten sind und die sich mit allen besonders ausführlichen biographischen Informationen auch in der Datenbank finden: von Theodor W. Adorno über Else Lasker-Schüler bis zu Anna Seghers und Kurt Tucholsky.
Persönlichkeiten vor Sachfragen
Die Germanistin Renate Heuer (1928-2014), die das Archiv in den achtziger Jahren begründete – erste Ideen dazu gab es schon in den sechziger Jahren –, wollte deutschsprachigen Jüdinnen und Juden ihre Stimme zurückgeben, die ihnen von den Nationalsozialisten genommen worden war: Männern und Frauen, die in verschiedenen Gebieten, sei es in der Wissenschaft, Literatur, Kunst, Politik oder auch im Sport die deutsche Kulturgeschichte mitgeprägt haben, unabhängig von Prominenz und Status.
“Demut und Bereitschaft zur Sühne angesichts des Holocaust waren für Renate Heuer wichtige Motivationen.”
Demut und Bereitschaft zur Sühne angesichts des Holocaust waren für Renate Heuer wichtige Motivationen. Vielleicht hat dieser Hintergrund im Verbund mit ihrem streng genealogischen Ansatz, der Frage „Wer ist Jude“, bislang den Blick auf eine spannende Komplementarität zu einem ähnlich ambitionierten und doch ganz anderen Projekt verdeckt: der von Dan Diner initiierten siebenbändigen „Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur“, die ebenfalls den Zeitraum 1750–1950 abdeckt und zwischen 2011 und 2017 erschienen ist.
Diner verzichtet bewusst auf Personeneinträge, um damit auch Personen mit „sich abschwächende[r] jüdische[r] Zugehörigkeit“ zu berücksichtigen, die einem eher individuell ausgeprägten, sich vom jüdischen Kollektiv entfernenden Selbstverständnis zuneigen“ – so schreibt er in seiner Einführung im ersten Band der „Enzyklopädie“. Konzeptionell leitend sind bei Diner dagegen emblematische Lemmata wie Werktitel, Schlüsselbegriffe oder Forschungsfelder, die Autoren und Autorinnen zugeordnet werden können, aber nur über das Register zu erschließen sind. So ist der Artikel „Bibliographie“ zu etwa zwei Dritteln Leben und Werk des Gelehrten Moritz Steinschneiders gewidmet; doch Persönlichkeiten bleiben hinter den Lemmata verborgen.
Demgegenüber zielt das von Renate Heuer geleitete Archiv Bibliographia Judaica ausschließlich auf Einträge zu jüdischen Persönlichkeiten, Sachfragen treten dabei in den Hintergrund. Heuers älteres, auf die 1960er Jahre zurückgehendes Projekt und Diners in den 2010er Jahren publizierte „Enzyklopädie“ können so als komplementäre und sich dabei ideal ergänzende Unternehmungen gesehen werden. Ja, man könnte noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass es sich bei diesen beiden Projekten um die anspruchsvollsten und wichtigsten Großprojekte der deutschsprachigen Jüdischen Studien der letzten Jahrzehnte handelt.
Welche Perspektiven bietet der biographische Ansatz künftig für die deutsch-jüdische Geschichte und für aktuelle Forschungen? Welche Personen fehlen möglicherweise im bestehenden Archiv – etwa weil das Kriterium „jüdisch“ im Archiv Bibliographia Judaica streng genealogisch gefasst wurde? Diesen Fragen werden wir im Herbst 2021 im Rahmen eines Workshops nachgehen, der speziell jüdische Wissenschaftlerinnen in den Blick nimmt.
Das Archiv Bibliographia Judaica steht für jüdische Vielfalt; im 21. Jahrhundert ist es ein lohnendes Unterfangen, diese weiter zu entwickeln – unter dem Hashtag #2021JLID und über das Jubiläumsjahr hinaus.
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[Titelbild: Berlin 1933 – Straßenszene in der Grenadierstraße im sogenannten “Scheunenviertel”; Bundesarchiv via Wikimedia Commons]