Mentale Gesundheit im Job: „Es reicht nicht nur, darüber zu sprechen“
Im Spagat zwischen Überstunden und der Überbrückung von Kita-Schließwochen ist es oft nur ein kleiner Schritt bis zum Burnout. Was können Beschäftigte tun, wenn die seelische Belastung im Berufsalltag zu groß wird? Wir sprachen mit der systemischen Coachin Annika von Voss vom Fürstenberg Institut über die Themen, die ihre Klientinnen und Klienten am häufigsten beschäftigen, sowie über mögliche Lösungsansätze für Führungskräfte und Unternehmen.
In einer Welt voller Krisen, beruflich-familiärer Doppelbelastungen und knapper Therapieplätze kann es schwerfallen, am Arbeitsplatz den Kopf frei zu behalten. Was können Mitarbeitende und Führungskräfte tun, wenn Sorgen und Belastungserscheinungen überhandnehmen? Diese Fragen beschäftigen nicht nur uns bei De Gruyter Brill, sondern viele Unternehmen weltweit. Die Antworten darauf zu finden, ist kein Projekt, das sich über Nacht abschließen lässt, sondern ein laufender Prozess, der Reflexion und auch Mut zur Veränderung erfordert.
Um seine Belegschaft zu unterstützen, kooperiert De Gruyter daher seit 2021 mit dem Fürstenberg Institut – einem Beratungsunternehmen, dessen systemisch ausgebildete Coaches Mitarbeitenden und Führungskräften bei unterschiedlichsten Themen und Problemen rund um mentale Gesundheit zur Seite stehen. Nach dem Zusammenschluss zu De Gruyter Brill können nun auch die Mitarbeitenden von Brill vom Angebot des Instituts profitieren.
Seit 2024 gehört Annika von Voss, studierte Wirtschaftspsychologin und systemisch-integrativ ausgebildete Coachin, zum Beraterinnen-Team des Fürstenberg Instituts. Wir wollten mehr über das Thema seelische Gesundheit am Arbeitsplatz erfahren und haben sie deshalb zum Gespräch eingeladen. In einem spannenden Interview berichtet sie, welche Themen ihre Klientinnen und Klienten besonders beschäftigen, welche Herausforderungen und Lösungsansätze es gibt, was eine gute Führungskraft ausmacht – und vieles mehr.
Alexandra Hinz: Frau von Voss, bitte beschreiben Sie mir zum Einstieg doch einmal, wie ein typischer Arbeitstag als Berater*in aussieht.
Annika von Voss: Als Coachin am Fürstenberg Institut hat man einen vollen Tag mit Beratungssitzungen zu verschiedensten Themen. Die Termine für die Sessions werden vorher vereinbart – es sei denn, man arbeitet in unserer Sofortberatung, dann ist man jederzeit erreichbar. Eine Beratung dauert bis zu 60 Minuten, dazwischen gibt es etwa 15 Minuten Zeit, um zu dokumentieren oder sich auf die nächste Beratung vorzubereiten. Meistens kommen Ratsuchende häufiger zu uns, das heißt, ein Coaching-Prozess kann über mehrere Wochen oder sogar Monate andauern.
AH: Gibt es Themen in der Beratung, die besonders häufig vorkommen? Und haben sich diese über die letzten Jahre verändert oder sind sie eher gleich geblieben?
AvV: Klassische Themen drehen sich um Stress und Belastung, teilweise auch um Krisen oder Konflikte. Die dahinterliegenden Ursachen können vielfältig sein. Es kann sein, dass sich Konflikte in der Familie häufen, dass eine hohe Belastung mit Kindern wahrgenommen wird oder dass die Ursache im Arbeitsalltag zu verorten ist. Das ist ganz verschieden.
“Wir spüren, dass die mentale Belastung stärker geworden ist und Betroffene sich oft erst sehr spät Hilfe holen, unter anderem, weil ihnen keine Möglichkeit dazu gegeben wird.”
Wir sehen auch, dass die Belastung in den letzten Jahren stärker geworden ist. Corona war ein großer Verstärker, aber auch nach Corona haben wir Trends wahrgenommen. Zum Beispiel haben familiäre Probleme deutlich zugenommen. Eine Theorie ist, dass Familien im Lockdown funktionieren mussten – man musste sich zusammenreißen und durchhalten, und erst als sich die Umstände wieder verändert haben, kamen Konflikte an die Oberfläche.
Ansonsten sehen wir auch, dass psychische Erkrankungen deutlich zugenommen haben. Therapieplätze sind stark begrenzt, aber die Nachfrage ist hoch und steigt weiter. Nicht nur die Statistiken der Krankenkassen sprechen Bände – auch wir spüren, dass die mentale Belastung stärker geworden ist und Betroffene sich oft erst sehr spät Hilfe holen, unter anderem, weil ihnen keine Möglichkeit dazu gegeben wird.
AH: Wo sehen sie die größten Herausforderungen, wenn es darum geht, eine gesunde Arbeitskultur zu etablieren?
AvV: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, weil eine gesunde Arbeitskultur auf verschiedenen Ebenen stattfindet – und jede bringt ihre eigenen Fragen und Herausforderungen mit sich.
Da ist zum einen die individuelle Ebene: Wie bin ich persönlich aufgestellt, mit meinen eigenen Ressourcen, meinen Kompetenzen und meiner Selbstfürsorge? Wie ist das Team aufgestellt? Wie unterstützen wir uns gegenseitig?
Dann gibt es die Führungsebene: Inwiefern unterstützt mich meine Führungskraft, wenn es mir gerade nicht gut geht und wenn ich stark belastet bin? Kann ich offen mit ihr darüber sprechen?
Außerdem gibt es die Ebene der Unternehmenskultur. Geht es bei uns ausschließlich um Leistung oder sind wir auch menschenorientiert? Wird im Unternehmen auch offen über Gefühle und Fehler gesprochen?
AH: Wenn Einzelpersonen und Unternehmen auf diese Fragen keine zufriedenstellenden Antworten finden – was muss sich ihrer Meinung nach verändern?
AvV: Ich denke, dass das Thema mentale Gesundheit noch stärker enttabuisiert werden muss. Es ist zwar präsenter in den Medien und auch viele Unternehmen werben damit, dass ihnen das Thema mentale Gesundheit wichtig ist – sie bieten beispielsweise Stressmanagement-Workshops für ihre Mitarbeitenden an. Aber es reicht nicht, nur darüber zu sprechen. Man muss es auch leben.
“Ich denke, dass das Thema mentale Gesundheit noch stärker enttabuisiert werden muss.”
Es braucht Zeit, bis wir alle verstanden haben: es ist okay, über Gefühle und Herausforderungen zu sprechen. Und es ist okay, sich einzugestehen, dass man gerade mental nicht gut aufgestellt ist oder dass es einem nicht gut geht.
Das hängt oft mit individuellen Glaubenssätzen aber auch mit Vorbildern zusammen. Wenn meine Führungskraft keine Verletzlichkeit zeigt und ich mich nicht sicher fühle, über meine eigenen Gefühle und Belastungen zu sprechen, werde ich das auch nicht tun. Wir brauchen mutige Personen, die vorangehen. Im besten Fall kann das sogar die Unternehmensspitze sein, die sich hinstellt, authentisch und empathisch handelt und diese Haltung so in die Unternehmenskultur trägt.
AH: Gibt es in der Arbeitswelt, auch bezogen auf mentale Gesundheit, neue Entwicklungen oder Trends, die sie besonders spannend oder herausfordernd finden?
AvV: In aller Munde ist natürlich das Thema künstliche Intelligenz, die vermehrt für psychologische und psychosoziale Beratung genutzt wird. Das ist einerseits kritisch, andererseits als Chance zu sehen, und es ist ein wichtiger Trend, den wir in unserer Arbeit berücksichtigen müssen. Am Fürstenberg Institut sehen wir KI als Bereicherung und Ergänzung zu unserer Beratung, denn Betroffene können sich vorher schon einmal mit der Frage beschäftigen, was ihr konkretes Anliegen ist. Sie können sich sortieren, strukturieren und vielleicht sogar schon ersten Input bekommen.
“KI gibt zwar Antworten und bestätigt uns in dem, was wir denken, glauben und fühlen, aber sie hinterfragt unsere Anliegen nicht ausreichend.”
KI ersetzt jedoch nicht den Kontakt zu einem Therapeuten, einer Beraterin oder einem Coach. Es braucht persönliche Begegnung, Kontext – und das fehlt bei der KI. Sie gibt zwar Antworten und bestätigt uns in dem, was wir denken, glauben und fühlen, aber sie hinterfragt unsere Anliegen nicht ausreichend. Wenn jemand zum Beispiel sagt, dass er oder sie unglücklich im Job ist und eine Veränderung möchte, dann ist es wichtig, erst einmal herauszufinden, was die Gründe für die Unzufriedenheit sind und was genau hinter der Frage steckt. Hier zeigen sich die Grenzen der KI.
Trotzdem sehe ich, wie bereits erwähnt, auch viele Vorteile in der Nutzung, zum Beispiel wenn es darum geht, den Mental Load zu reduzieren, sich zu strukturieren, neue Impulse zu bekommen oder eine erste Anlaufstelle bei Problemen zu haben und das rund um die Uhr. Wenn man mitten in der Nacht nicht aus dem Grübeln herauskommt und niemand erreichbar ist – dann kann die KI zunächst einmal entlasten. Dabei ist jedoch ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Reflexionsvermögen erforderlich, da die KI keine Beratung oder Therapie vollständig ersetzt.
AH: Zeigen sich bei Ihren Klienten und Klientinnen auch Zukunftsängste, was das Thema angeht?
AvV: In bestimmten Branchen, ja. Zum Beispiel, wenn es um Übersetzungen, Textformulierung, Ideenfindung oder allgemein kreative Aufgaben geht. Diese Sorgen eröffnen aber auch die Möglichkeit, den eigenen Mehrwert als Mensch zu erkennen. Sich dessen bewusst zu werden, ist ein gutes Anliegen für eine Beratung.
Man kann sich dabei fragen: Was sind meine individuellen Stärken, die nicht durch eine KI ersetzt werden können? Wie kann ich diese weiterentwickeln, ohne mich vor der KI zu verstecken und ohne sie als Konkurrenz zu sehen? Wie kann ich KI in meinen Job-Alltag integrieren?
Die Antworten auf diese Fragen zu finden und entsprechende Kompetenzen zu entwickeln, kann dabei helfen, den eigenen Job zu sichern.
AH: Abschließend möchte ich noch einmal den Bogen zurückspannen. In einem Satz: Was möchten Sie Führungskräften mitgeben, die ihre Arbeitskultur verbessern möchten?
AvV: Das erinnert mich ein bisschen an den Podcast „Hotel Matze“, bei dem am Ende immer nach einem Satz gefragt wird, den man auf eine Plakatwand am Berliner Alexanderplatz schreiben würde… Ich würde sagen:
Gute Führung braucht mehr Beziehung – anstatt Fachkompetenz: Empathie, Zuhören, Vertrauen und die Fähigkeit sich selbst zu führen.
AH: Damit sprechen Sie mir und bestimmt vielen anderen aus der Seele – in diesem Sinne, Frau von Voss, vielen Dank für das Gespräch und auf weiterhin gute Zusammenarbeit zwischen De Gruyter Brill und dem Fürstenberg Institut!
[Title image by Stellalevi/DigitalVision Vectors/Getty Images]