Lauschangriff auf deutsche Offiziere: Russlands hybride Kriegsführung
Kommunikation ist im digitalen Zeitalter zu einer zentralen Ressource der Kriegsführung geworden. Dies bewies zuletzt eindrücklich der Abhörskandal um den möglichen Einsatz des Marschflugkörpers Taurus durch die Ukraine. Wie können journalistische Medien künftig in diesem „Krieg der Narrative“ bestehen?
Mit einer ordentlichen Portion Häme präsentierte Margarita Simonjan, Chefredakteurin der staatlichen russischen Medienholding „Rossija Segodnja“ (zu Deutsch „Russland heute“), einen Audio-Mitschnitt, der es in sich hatte. „Kameraden mit Schulterklappen“ – in der russischen Umgangssprache das, was im Deutschen „Schlapphüte“ genannt wird – hätten ihr etwas sehr Interessantes zugespielt: einen durch gezieltes Abhören gewonnen Audiomitschnitt. In diesem Gespräch beraten vier hochrangige Bundeswehroffiziere, unter ihnen auch der Generalinspekteur der Luftwaffe, hypothetische Szenarien, unter welchen Bedingungen der Marschflugkörper „Taurus“ in der Ukraine und von ukrainischem Militär eingesetzt werden könnte.
Als der Mitschnitt am 1. März 2024 veröffentlicht wurde, war die Aufregung im politischen Berlin sofort groß. Aus den Reihen der CDU/CSU-Opposition wurde umgehend gefordert, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss solle die hochnotpeinliche Kommunikationspanne aufklären. Die Bundeswehr beauftragte den Militärischen Abschirmdienst (MAD), nach Sicherheitslücken zu fahnden; die abgehörten Offiziere müssen sich seitdem Fragen nach ihrem Sicherheits- und Risikowissen bei der digitalen Kommunikation stellen. Zudem deuten einige technische Details aus dem Fachgespräch der Militärs darauf hin, dass Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Begründung, warum er den „Taurus“ partout nicht an die Ukraine liefern will, die deutsche Öffentlichkeit nicht umfassend und nicht in allen Punkten zutreffend informiert hat.
Krieg der Narrative
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius bemühte sich, die Wogen zu glätten, und gab den blamierten Militärs politische Rückendeckung. Für ihn sei der Lauschangriff auf hochrangige deutsche Offiziere „Teil eines Informationskrieges“, den Russland gegen Deutschland führe: „Es geht um Spaltung. Es geht darum, unsere Geschlossenheit zu untergraben“, sagte er laut einer dpa-Meldung. Durch die Veröffentlichung der 38-minütigen Audiodatei solle „das Märchen, die Legende“ verstärkt werden, Deutschland arbeite an einem Krieg gegen Russland.
Pistorius hätte in seiner Einordnung des Informationslecks in die russische Kommunikationsstrategie auch den Begriff des „Narrativs“ verwenden können. Denn in den gleichgeschalteten russischen Medien, vor allem in den Talkformaten der landesweiten russischen Fernsehsender, wurden selektiv zitierte Passagen aus dem Mitschnitt herangezogen, um zu belegen, was die russische Führung seit Monaten behauptet, um ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine zu legitimieren: Russland führe einen Krieg gegen die gesamte NATO, das westliche Militärbündnis wolle Russland zerstören, der Westen – auch Deutschland – sei längst Kriegspartei gegen Russland. Alle diese propagandistisch überhöhten und mit zum Teil schriller Rhetorik verbreiteten Behauptungen lassen sich letzten Endes auf eine Art Basisnarrativ zurückführen: Russland führe einen Präventivkrieg in der Ukraine.
„Der Krieg der Narrative ist mehr als ein Streit um Worte. Er markiert die geopolitischen Bruchlinien des 21. Jahrhunderts.“
Sieht man einmal von der hochgradig ideologisierten, mythologischen Erzählung ab, Russen und Ukrainer seien ein Volk – auch dies behauptet die russische Propaganda immer wieder – so stellt praktisch die gesamte strategische Kommunikation des Kreml auf das Narrativ vom Präventivkrieg ab. Viele Narrative und legitimierende Sentenzen in der politischen Kommunikation der russischen Führung um Präsident Wladimir Putin münden gedanklich hier. Um Schlimmeres für das eigene Land zu verhindern, hätte Russland zu den Waffen greifen müssen, um einen „anti-russischen“ Staat namens Ukraine an seinen Grenzen zu „entmilitarisieren“ und die politische Klasse in Kiew zu „entnazifizieren“.
Auf dieses Narrativ antwortete die ukrainische Führung bald mit Gegennarrativen: Die Ukraine kämpfe um das nackte Überleben als Nation – ja, sie verteidige am Dnjepr die Freiheit ganz Europas. Der Krieg der Narrative ist mehr als ein Streit um Worte. Er markiert die geopolitischen Bruchlinien des 21. Jahrhunderts.
Neue Möglichkeiten der Manipulation
Mit dem Lauschangriff auf die deutschen Offiziere haben Russlands Geheimdienstler einen geradezu lehrbuchhaft vorgetragenen hybriden Angriff auf Deutschland geführt. Bemerkenswert ist auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung: Am Tag der Beisetzung des in russischer Lagerhaft zu Tode gekommenen Oppositionellen Alexei Nawalny, einen Tag nach Putins Rede an die (kriegführende) Nation und mitten in die seit Tagen hin-und-herwogende Taurus-Debatte in Deutschland, platzte dieser Mitschnitt. Dabei hatten Putins Abhörtrupps das Gespräch bereits am 19. Februar belauscht und aufgezeichnet. Doch die russischen Kommunikationskrieger warteten, bis sie den richtigen Zeitpunkt gekommen sahen, um mit der Veröffentlichung eine maximale Wirkung zu erzielen. Dabei bestand diese Wirkung zu einem großen Teil darin, die Aufmerksamkeit des eigenen Publikums von Alexei Nawalny ab- und auf einen vorgeblichen äußeren Feind umzulenken.
„Der nicht-lineare, asymmetrische Krieg kombiniert alle Maßnahmen, die dem Gegner schaden. Informationskampagnen, gezielt gestreute Desinformation und arglistige Täuschungen spielen dabei eine besondere Rolle.“
Die Grundlagen derartiger orchestrierter Kampagnen gegen politische Feinde finden sich in der russischen Militärdoktrin, die der russische Generalstabschef Valerij Gerassimow vor gut zehn Jahren entwickelt hat: Der nicht-lineare, asymmetrische Krieg kombiniert alle Maßnahmen, die dem Gegner schaden. Informationskampagnen, gezielt gestreute Desinformation und arglistige Täuschungen spielen dabei eine besondere Rolle – und erreichen im Zeitalter sozialer Medien und allgegenwärtiger Mobilkommunikation nicht nur die heimische Bevölkerung, sondern gleichermaßen die Bürgerinnen und Bürger des Kriegsgegners und seiner Verbündeten.
Damit ergeben sich gänzlich neue Möglichkeiten der Manipulation. So wird Desinformation mit automatisierten Bots massenhaft, aber gleichzeitig personenzentriert verbreitet. Mit Deepfake-Technologien werden falsche, aber täuschend echt aussehende Videos und Audioaufnahmen erstellt, und mit Künstlicher Intelligenz wird die Kommunikation auf sozialen Medien verstärkt, um Benutzerinnen und Benutzern Inhalte zu empfehlen, die ihren Überzeugungen entsprechen, auch wenn diese Inhalte falsch oder irreführend sind. Beispielsweise berichtete das Auswärtige Amt im Januar 2024 von mehr als 50.000 gefälschten Nutzerkonten, die – offenkundig gesteuert aus Russland – auf der Plattform X in über einer Million deutschsprachiger Tweets feindselige Informationen über Deutschland und die Bundesregierung verbreiten. Neben solchen Manipulationsversuchen auf Onlineplattformen werden auch Webseiten etablierter Medien gefälscht.
Journalistinnen und Journalisten in offenen Gesellschaften wie Deutschland sind vor diesem Hintergrund besonders herausgefordert. Denn für den qualitätsorientierten Journalismus bleibt die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung eine, wenn nicht sogar die zentrale Ressource. Um die eigene Glaubwürdigkeit zu stärken, sind insofern journalistische Prinzipien wie Genauigkeit, Faktenprüfung und Unparteilichkeit weiterhin wichtig. Eine besondere Rolle spielen dabei Organisationen wie ARD-faktenfinder, BR24 #Faktenfuchs, Correctiv, DW Faktencheck oder ZDFheuteCheck, die Desinformationen und Verschwörungsbehauptungen auf der Basis nachprüfbarer Fakten richtigstellen. Das ist wichtig, reicht aber in hybriden Mediensystemen, in denen soziale Medien eine zunehmend wichtigere Rolle spielen, nicht aus.
Qualitätsmedien sind daher gut beraten, ihre Präsenzen auf digitalen Plattformen auszubauen, über komplexe Themen, die in Desinformationskampagnen vernachlässigt werden, differenziert, umfassend und verständlich zu berichten. Ihre Arbeitsweise und Standards sollten sie transparent, selbstkritisch und im Dialog mit ihren Publika reflektieren und sich verstärkt bei der Faktenprüfung von Inhalten konkurrierender, auch semiprofessioneller Plattformen engagieren.
Erfahren Sie mehr in diesem Buch (erscheint im Juli 2024)
[Titelbild: A-R-T-U-R/iStock/Getty Images Plus]