Wie Thüringen zu einem Zentrum des Buchdrucks wurde: Werner Greiling und Marko Kreutzmann im Interview

Kaum war der Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden, avancierte Thüringen zu einer Hochburg für Druckereien und Verlage. Was macht das thüringische Verlagswesen so besonders? Die Historiker Werner Greiling und Marko Kreutzmann geben Einblicke – mit einem besonderen Fokus auf den Böhlau Verlag, der heute zu De Gruyter Brill gehört.

Um 1440, Jahrhunderte vor Podcasts, Blogposts und Social-Media-Reels, ereignete sich in Mainz eine bahnbrechende Innovation: die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch den gelernten Goldschmied Johannes Gutenberg. Erstmals wurden mit Druckerschwärze bestrichene, bewegliche Metalllettern auf Papier gepresst, was die Reproduktion und damit die massenhafte Verbreitung von Schriften aller Art ermöglichte.

Darstellung des Buchdruckerhandwerks im 16. Jhd., Holzschnitt von Jost Amman (1568)
Darstellung des Buchdruckerhandwerks im 16. Jhd., Holzschnitt von Jost Amman, 1568 (Bildquelle: Wikimedia Commons)

Bereits wenige Jahrzehnte später hatten sich zahlreiche Druckereien und Verlage im Deutschen Reich etabliert – darunter viele in Thüringen. Wie kam es zu dieser „medialen Ballung“ ausgerechnet in Städten wie Erfurt, Jena und Weimar? Welche Verlage und welche bedeutenden Verleger verbinden wir mit dieser Zeit und dieser Region? Und welche Spuren der thüringischen Verlagsgeschichte ziehen sich bis in die Gegenwart?

Darüber gaben uns die Historiker Prof. Dr. Werner Greiling und PD Dr. Marko Kreutzmann im Interview Auskunft. Sie sind die Herausgeber des Tagungsbands „Von der Weimarer Hofbuchdruckerei zum Böhlau Verlag“, der kürzlich im Böhlau Verlag unter dem Dach von De Gruyter Brill erschienen ist.

Ausgangspunkt des Bands war eine Tagung im März 2024 anlässlich des 400-jährigen Jubiläums der ehemaligen Weimarischen Hofbuchdruckerei. Sie fand im Stadtarchiv Weimar, im ehemaligen Verlagshaus des Verlegers Hermann Böhlau, statt. Der Böhlau Verlag wurde von den Beiträgern und Beiträgerinnen dabei als zentraler Referenzpunkt behandelt. Da dieser heute als Imprint Teil von De Gruyter Brill ist, freuten wir uns umso mehr, im Interview somit auch mehr über unsere eigene Geschichte zu erfahren.

Stadtarchiv Weimar mit Erinnerungstafel an Hermann Böhlau und seinen Verlag
Stadtarchiv Weimar mit Erinnerungstafel an Hermann Böhlau und seinen Verlag (Bildquelle: Wikimedia Commons)

Prof. Dr. Werner Greiling, Professor im Ruhestand für Geschichte der Neuzeit, und Dr. Marko Kreutzmann, Privatdozent und Leiter der Forschungsstelle für Neuere Regionalgeschichte Thüringens, beide an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, haben Alexandra Hinz von De Gruyter Brill ihre schriftlichen Antworten auf unsere Fragen übermittelt.

Alexandra Hinz: Wie ist die thüringische Landesgeschichte zu einem Ihrer Forschungsschwerpunkte geworden? Und woher stammt ihr persönliches Interesse an der thüringischen Verlagsgeschichte?

Werner Greiling: Mit einer Dissertation über den preußischen Diplomaten und Publizisten Karl August von Ense (1785–1858) war es zunächst die Welt der Medien und Verlage, die mich faszinierte und die ich zu erforschen begann. Das setzte sich mit kleineren Studien fort und mündete schließlich in einer 800-seitigen Habilitationsschrift über Presse und Öffentlichkeit in Thüringen im 18. und 19. Jahrhundert. Dass hierbei auch die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für das Wirken von Verlegern und Buchhändlern, Herausgebern und Schriftstellern eine Rolle spielten, war selbstverständlich. In dieser Wechselwirkung wurde auch mein Interesse an der thüringischen Landesgeschichte immer größer; vorhanden war es aber ohnehin seit langem.

“Die Verlagsgeschichte spielte im Kontext der allgemeinen Mediengeschichte eine wichtige Rolle als prägender Faktor der Region.”

Marko Kreutzmann: Die Wiedergründung des Landes Thüringen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung 1990 weckte bei mir das Interesse an den historischen Wurzeln des Landes: Wann und wie entstand „Thüringen“ als Begriff und als regionale sowie als politische Einheit? Was waren wichtige Grundentwicklungen, herausragende Ereignisse, Strukturen und Persönlichkeiten der thüringischen Geschichte? Die Verlagsgeschichte spielte dabei im Kontext der allgemeinen Mediengeschichte eine wichtige Rolle als prägender Faktor der Region.

AH: Was machte Thüringen – von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 19. Jahrhundert – zu einem Zentrum der Buchproduktion?

WG & MK: Der Buchdruck mit beweglichen Lettern wurde schon kurz nach seiner Erfindung Mitte des 15. Jahrhunderts in Thüringen eingeführt. Als ältester Standort des Gewerbes in Thüringen gilt Erfurt, wo bereits in den 1470er Jahren ein Buchdrucker tätig wurde. Weitere Städte folgten im 16. und 17. Jahrhundert. Darunter befanden sich neben der Universitätsstadt Jena vor allem zahlreiche Residenzstädte, in denen in privilegierten Hofbuchdruckereien für den Bedarf des Fürsten und seiner Landesregierung gedruckt wurde.

Kirchenbuch für die Pfarrherren im Fürstentum Weimar. Gedruckt zu Weimar in der Fürstlichen Druckerei bei Johannes Weischner, 1624 (Bildquelle: “Von der Hofbuchdruckerei zum Verlag Böhlau: Geschichte der Hofbuchdruckerei in Weimar von den Anfängen bis 1853”, Böhlaus Nachfolger, Weimar, 1974)

Da es in Thüringen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts überdurchschnittlich viele Kleinstaaten mit eigenen Residenzen gab, entstanden hier auch viele Druckereien. Hinzu kam neben den Wirkungen der von thüringischen Fürsten geförderten Reformation im 16. Jahrhundert die Pflege von Kunst, Kultur, Wissenschaft und Literatur im 18. und 19. Jahrhundert an den Fürstenhöfen.

In Verbindung mit dem Engagement herausragender Verlegerpersönlichkeiten wie Friedrich Justin Bertuch und Hermann Böhlau in Weimar, Friedrich Christoph Perthes und Justus Perthes in Gotha oder Carl Friedrich Ernst Frommann und Friedrich Johannes Frommann sowie Gustav Fischer in Jena, die von den günstigen Bedingungen in Thüringen angezogen wurden, entwickelte sich die Region zu einer überaus dichten Medienlandschaft, die mit den großen Zentren des Buchhandels wie Leipzig, Frankfurt am Main oder Berlin durchaus konkurrieren konnte.

AH: Inwiefern unterschied sich das Profil des Böhlau Verlags, der aus der Weimarer Hofbuchdruckerei hervorging, von anderen thüringischen Verlagen wie Gustav Fischer oder Perthes? Gab es eher Konkurrenz oder Kooperation?

WG & MK: Die unterschiedlichen Verlage in Thüringen entwickelten im 19. Jahrhundert ein jeweils eigenes Profil. Der Verlag des 1821 von Hamburg nach Gotha übergesiedelten Friedrich Christoph Perthes konzentrierte sich u.a. auf geschichtswissenschaftliche Werke. Der Verlag seines Onkels Justus Perthes spezialisierte sich auf kartographische Werke und erlangte damit weltweit große Bedeutung. Gustav Fischer in Jena fokussierte sich Ende des 19. Jahrhunderts auf Medizin und Naturwissenschaft, aber auch auf Rechts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaft.

“Die Publikation der 143 Bände [von Goethes gesammelten Werken] in den Jahren 1887 bis 1919 war eine verlegerische Meisterleistung!”

Dem gegenüber profilierten Hermann Böhlau und seine Nachfolger den Böhlau Verlag als Publikationsort für große Editionen der Literatur, der Theologie und der Geschichtswissenschaft. Herausragend war die Herausgabe von Goethes gesammelten Werken, Tagebüchern und Briefen auf Initiative der damaligen Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach. Die Publikation der 143 Bände in den Jahren 1887 bis 1919 war auch eine verlegerische Meisterleistung! Ähnlich verhielt es sich mit der bereits 1883 begonnenen Publikation der Schriften Martin Luthers, die erst 2009 abgeschlossen worden ist.

Natürlich war das Spektrum der gesamten Verlagspublikationen breit, und es gab auch Konkurrenz. Insgesamt aber teilten sich die Verlage die Nachfrage eines wachsenden Buchmarktes. Kooperationen gab es vor allem bei den Bestrebungen, den Buchhandel in Deutschland einheitlich zu organisieren und gegen den Nachdruck vorzugehen. Dafür bestand ein eigener Verband, der 1825 gegründete „Börsenverein der deutschen Buchhändler“ in Leipzig. Dem Börsenverein gehörten auch viele thüringische Verleger wie Friedrich Christoph Perthes aus Gotha, Friedrich Johannes Frommann aus Jena oder Hermann Böhlau aus Weimar an.

Foto von Hermann Böhlau
Der Verleger und Hofdrucker Hermann Böhlau (ca. 1875; Bildquelle: Wikimedia Commons)

AH: Wie entwickelte sich der Böhlau Verlag in der DDR-Zeit, und welche Herausforderungen brachte die Wiedervereinigung für das Unternehmen mit sich?

WG & MK: Zunächst einmal entwickelten sich zwei Böhlau Verlage nebeneinander. Im Jahr 1947 gründete Karl Rauch einen neuen Böhlau Verlag mit Sitz in Graz, später in Wien. 1951 wurde in Köln ein weiterer Zweig des Böhlau Verlages gegründet. Dieser übernahm zahlreiche Editionen, Zeitschriften und Reihen aus Weimar.

Der ursprüngliche Verlagssitz Weimar blieb unter dem Namen „Hermann Böhlaus Nachfolger“ zunächst als privater Verlag erhalten. Im Jahr 1979 wurde er an die Akademie der Wissenschaften der DDR verkauft. Nach dem Ende der DDR wurde dieser Verlagssitz 1998 von Metzler in Stuttgart übernommen und 2002 aufgelöst. „Hermann Böhlaus Nachfolger“ ist heute nur noch als Imprint ein Markenname für rechtlich geschützte Reihen aus früherer Zeit. Die Familie Rauch eröffnete 1990 jedoch neben Wien und Köln eine dritte Niederlassung in Weimar. Ab 2017 gehörte Böhlau Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Dieser Verlag gehört seit 2022 zur Brill-Gruppe. Letztere fusionierte 2024 zu De Gruyter Brill.

Diese Verkäufe und Zusammenschlüsse spiegeln die enormen Herausforderungen durch den medialen und gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte wider, der die Verlage und den Buchhandel allgemein sehr stark betrifft. Das bisherige Geschäftsmodell mit aufwendig produzierten Büchern für Experten, mit großen Klassikerausgaben, Editionen und Handbüchern bietet selbst für traditionsreiche Privatverlage keine sichere wirtschaftliche Grundlage mehr.

Neuerscheinungen des Verlages Hermann Böhlaus Nachf. 1986–1990 (Bildquelle: “Von der Weimarer Hofbuchdruckerei zum Böhlau Verlag” © De Gruyter Brill)

AH: Was können wir heute noch von der thüringischen Verlagsgeschichte lernen? Gibt es Spuren, die bis in die Gegenwart führen?

WG & MK: Zunächst einmal können wir lernen, wie sich ein neues Medium durchsetzt und dabei Gesellschaft und Politik grundlegend verändert. Dies bietet Herausforderungen und Chancen zugleich. Die massenhafte Verbreitung von Informationen und Bildung wäre ohne den Buchdruck nicht möglich gewesen. Damit konnte etwa die Entwicklung des modernen Staates mit seiner auf Schriftlichkeit beruhenden Verwaltung in eine neue Phase treten.

“Grundlegende Umwälzungen wie die Reformation, die Aufklärung oder die politischen Revolutionen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts wären ohne den Buchdruck (…) in dieser Form kaum denkbar gewesen.”

Aber auch grundlegende Umwälzungen wie die Reformation, die Aufklärung oder die politischen Revolutionen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts wären ohne den Buchdruck, der ja auch die massenhafte Herstellung und Verbreitung von Zeitungen und Zeitschriften sowie von Flugblättern und damit die rasante Vermittlung aktueller Informationen ermöglichte, in dieser Form kaum denkbar gewesen.

Insofern handelte es sich um eine „Medienrevolution“, die durch die neuen maschinellen Drucktechniken des 19. Jahrhunderts noch einmal enorm beschleunigt wurde. Sehr aktuell erscheinen auch die Diskussionen, die im 19. Jahrhundert um den Nachdruckschutz geführt wurden: Verleger wie der im thüringischen Hildburghausen ansässige Carl Joseph Meyer argumentierten, dass für die allgemeine Verbreitung von Kultur und Bildung der freie Nachdruck bestehender Ausgaben erlaubt sein müsse. Viele Schriftsteller und Verleger hielten dem jedoch das Recht am geistigen Eigentum entgegen, das eine unabdingbare wirtschaftliche Voraussetzung für die Produktion von Büchern mit ihrem Doppelcharakter als Kulturgut und Ware sei.

AH: Gab es bei der Tagung oder der Arbeit am Band für Sie besonders überraschende oder kuriose Erkenntnisse?

WG & MK: Es gab zahlreiche interessante Detailerkenntnisse, sowohl für die Frühzeit des Buchdrucks als auch zur jüngeren Vergangenheit. Auf Sensationen ist seriöse Wissenschaft ja nicht aus. Allerdings gab es nach der Tagung eine sehr betrübliche Nachricht. Denn der international geachtete Bremer Medienhistoriker Prof. Dr. Holger Böning, der in Weimar eine Sektion moderiert hatte, ist wenige Wochen später im Alter von 74 Jahren verstorben. Ihm haben die Herausgeber diesen Tagungsband gewidmet.

AH: Vielen Dank für das Interview!

[Titelbild: ferrantraite/E+/Getty Images]

Werner Greiling

Prof. Dr. Werner Greiling ist Professor i.R. für Geschichte der Neuzeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Marko Kreutzmann

PD Dr. Marko Kreutzmann ist Privatdozent und Leiter der Forschungsstelle für Neuere Regionalgeschichte Thüringens an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Foto: Christian Faludi - GEDG.

Alexandra Hinz

Alexandra arbeitet als Digital Communications Editor im Web Content team von De Gruyter Brill. Sie können Sie kontaktieren via alexandra.hinz [at] degruyterbrill.com.

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