Wie Forschende in den Geistes- und Sozialwissenschaften arbeiten: Klassische Methoden überwiegen laut Studie

Eine Studie des Insights-Teams bei De Gruyter zeigt: In den Geistes- und Sozialwissenschaften überwiegen klassische Arbeitsmethoden. Sind Forschende in diesen Disziplinen einfach veränderungsresistent?

Jede und jeder scheint auf der Suche nach den neuesten Technologien, Tools und digitalen Innovationen, um die eigene Arbeit zu optimieren und die Produktivität zu erhöhen – so nimmt man jedenfalls gerne an. Eine jetzt veröffentlichte Studie des Insights-Teams bei De Gruyter über die Arbeitsweise von Forschenden in den Geistes- und Sozialwissenschaften (HSS) zeigt jetzt, dass das nicht immer und überall so ist.

Die Studie bestand aus einer quantitativen Umfrage und qualitativen Interviews. Eines der Ergebnisse ist, dass Autor/-innen in den Geistes- und Sozialwissenschaften unabhängig von Alter und Karrierestufe eher traditionelle Arbeitsweisen bevorzugen – und zwar nicht etwa, weil sie sich grundsätzlich gegen neue Methoden sträuben, sondern weil sie schlicht andere Bedürfnisse haben.

HSS-Arbeitsabläufe verstehen

Das meiste, was wir über die alltägliche Arbeitsweise von Akademiker/-innen wissen – etwa, welche Tools und Technologien sie einsetzen, um ihre Projekte voranzubringen – bezieht sich auf Forschende in den Naturwissenschaften (STM). Diese Erkenntnisse sind zweifelsohne wertvoll. Aber da wir bei De Gruyter nicht nur, aber vor allem Bücher und Zeitschriften in den Geistes- und Sozialwissenschaften publizieren, wollten wir mehr über die Gewohnheiten und Arbeitsabläufe von Forschenden in genau diesen Disziplinen wissen.

*Lea Bauer, eine Studentin der HDM Stuttgart führte die Untersuchung im Rahmen ihrer Bachelorarbeit ‘Typische Phasen des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses von Sozial- und Geisteswissenschaftlern unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung von anfallenden und verwendeten Daten‘ durch.

Wir haben deshalb im April und Mai 2021 in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Studie durchgeführt, bei der wir 641 Personen befragt haben, 14 von ihnen in ausführlichen Interviews. Das Projekt war eine Kooperation zwischen dem Insights-Team bei De Gruyter und einer Bachelor-Studentin der HDM Stuttgart*.
Wir haben die Forschenden dazu befragt, wie ihre tägliche Forschungsarbeit aussieht, welche Aspekte ihres Alltags sie als besonders herausfordernd empfinden, aber auch, was sie unter Open Data und Open Access in Bezug auf ihr Fachgebiet verstehen.

Klassische Methoden überwiegen

Insgesamt zeichnen die Ergebnisse das Bild einer Forschungsgemeinschaft, die auf bewährte Tools beim Projektmanagement und Schreiben setzt und klassische Kanäle für die Kommunikation, Verbreitung und Recherche bevorzugt. Die Studie zeigt außerdem, dass die meisten der befragten Geistes- und Sozialwissenschaftler/-innen bei der Vorbereitung, Planung, Strukturierung und beim Schreiben ihrer Arbeiten selten digitalen Kollaborationsplattformen und Literaturverwaltungsprogramme nutzen, wie sie heute zahlreich auf dem Markt sind.

So gaben 94% der befragten Sozialwissenschaftler/-innen an, Microsoft Word für das Schreiben ihrer Manuskripte zu nutzen. Die große Mehrheit der Befragten verwendet Word auch für die Verwaltung von Zitaten und Literatur.

Darüber hinaus ist die E-Mail nach wie vor das klar favorisierte Kommunikationsmittel: 96 % der Befragten bevorzugen diese Methode. Die Korrespondenz via E-Mail ist unabhängig von Alter und Karrierestufe beliebt und wird auch häufig für den Austausch von Forschungsergebnissen sowie für die Zusammenarbeit im Team genutzt.

Analog bleiben

Die Studie zeigt außerdem, dass vor allem Geisteswissenschaftler/-innen tendenziell allein arbeiten und hauptsächlich über Bibliothekswebseiten sowie Google Scholar nach Informationen suchen. Fast die Hälfte von ihnen wendet sich direkt an Autor/-innen, um Artikel und Literatur anzufordern.

“Geisteswissenschaftler/-innen schätzen die Arbeit in physischen Räumen wie Bibliotheken und den Umgang mit physischen Objekten wie Büchern oder Archivalien.”

Die Befragten zeigten auch eine Vorliebe für analoges Arbeiten. 11 der 14 für die Studie interviewten Akademiker/-innen gaben an, dass sie die Literaturrecherche in der Bibliothek gegenüber anderen Formen der Suche deutlich bevorzugen. Auch wenn die Recherche und das Auffinden von Informationen insbesondere über Google für die Arbeit aller Forschenden wichtig ist, schätzen besonders Geisteswissenschaftler/-innen die Arbeit in physischen Räumen wie Bibliotheken und den Umgang mit physischen Objekten wie Büchern oder Archivalien.

Verlockungen der physischen Welt

Die Studie zeigt, dass Geistes- und Sozialwissenschaftler/-innen sich schlicht gerne in Bibliotheken, Sammlungen und Archiven aufhalten. Viele schätzen die Möglichkeit, gedruckte Bücher, Artefakte und Objekte zu sehen, anzufassen und mit ihnen zu arbeiten – was die Corona-Pandemie für sehr viele unmöglich gemacht hat.

Erfahren Sie mehr über die Auswirkungen von COVID-19 auf die Arbeit von Forschenden in unseren vorausgehenden Insights-Studien.

Obwohl die Befragten eBooks und Online-Sammlungen durchaus praktisch finden, sagten viele, dass gedruckte Bücher das Forschen und Lesen angenehmer und spannender machen. Für viele sind eBooks schwer zu handhaben und werden als anstrengend für die Augen empfunden.

Viele Forschende im HSS-Bereich drucken Online-Dokumente aus, um sie lesen, und organisieren ihre Arbeit ohne Hilfe von Literaturverwaltungsprogrammen. Jede/r vierte der befragten Geisteswissenschaftler/-innen schreibt auch gelegentlich noch mit der Hand.

Kein “Patentrezept” für alle

Es gibt zweifellos viele individuelle Gründe dafür, warum Geistes- und Sozialwissenschaftler/-innen bewährte Forschungswerkzeuge und klassische Arbeitsweisen bevorzugen. Unsere Schlussfolgerung aus den Interviews insgesamt ist: sie tun das, weil diese Methoden für sie einfach funktionieren.

Wenn Forschende in den Naturwissenschaften (STM) häufiger die neuesten digitalen Tools für das Management von Daten und die Kollaboration nutzen, liegt das wohl daran, dass ihre Bedürfnisse andere sind. Geistes- und Sozialwissenschaftler/-innen verweigern sich dem Wandel nicht, sondern haben für die Tools und Technologien, die für viele Forschende in den Naturwissenschaften nützlich sind, einfach keine Verwendung.

Unser Verständnis der Arbeitsabläufe in den Wissenschaften muss also berücksichtigen, dass verschiedene Wissenschaftler/-innen in verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Dabei sollten wir nicht nach dem einen Patentrezept suchen.

Die von uns durchgeführte Studie hat bestätigt, dass sich Geistes- und Sozialwissenschaftler/-innen an bestimmten physischen Orten wohl fühlen – umgeben von Büchern, Archiven, Sammlungen und Artefakten. Sie recherchieren online, aber sie wollen sich auch in Primärquellen verlieren, Originaltexte lesen, neue Forschungsbereiche entdecken und spannende Forschungsfragen auftun.

Digitale Innovation kann Wissenschaft und Forschung in vielen Bereichen voranbringen. Aber es scheint, als wären eine Bibliothek oder ein Archiv, ein Stift und ein Notizbuch die einzigen Dinge, die manche Forschende wirklich wollen und brauchen.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt: “How Humanities and Social Science Scholars Work: New Research Points to the Prevalence of Traditional Methods.”

[Title image by eclipse_images/E+/Getty Images]

Deirdre Watchorn and Chris Smith

Deirdre is Senior Manager of De Gruyter's Insights & Analysis team. Chris is a writer, researcher and communications consultant working with scholarly publishers. He’s also co-founder of Prolifiko which runs coaching programs for academic writers.

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