Wer wir waren: Ein Gespräch mit Historikerin Angelika Königseder über De Gruyter in der Nachkriegszeit
Bombenschäden, Papiermangel und Mitarbeiter, die plötzlich nicht mehr zur Arbeit kommen – Dr. Angelika Königseder schildert in ihrem neuen Buch die Situation des De-Gruyter-Verlags im Berlin der Nachkriegszeit. Wir sprachen mit ihr über die Hintergründe des Projekts.
Was war die Geschichte von De Gruyter im Nationalsozialismus? Martin Cram und Christoph Seils vom Kuratorium der Walter de Gruyter Stiftung beauftragten 2011 die Historikerin und Lektorin Dr. Angelika Königseder mit einer entsprechenden Forschungsarbeit, die die Geschichte des Verlags zwischen 1933 und 1945 beleuchten sollte. Die Ergebnisse erschienen 2016 unter dem Titel „Walter de Gruyter: Ein Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus“ bei Mohr Siebeck.
Doch damit endet die Aufarbeitung der Verlagsgeschichte nicht. Vor kurzem erschien, ebenfalls bei Mohr Siebeck, die zweite Forschungsarbeit von Dr. Angelika Königseder, welche inhaltlich nahtlos an die erste Publikation anschließt: „Herbert Cram und der Verlag Walter de Gruyter 1945 bis 1967: Ein Wissenschaftsverlag im Nachkriegsberlin“. Wie entstand diese Fortsetzung, und wie schlug sich der De-Gruyter-Verlag nach dem Krieg im geteilten Berlin? All das und mehr durften wir von Angelika Königseder erfahren. Das Gespräch führte Alexandra Hinz von De Gruyter.
Alexandra Hinz: Wie kam es zu Ihrer zweiten Forschungsarbeit über die Verlagsgeschichte von De Gruyter?
Angelika Königseder: Martin Cram und Christoph Seils vom Kuratorium der Walter de Gruyter Stiftung, die die Forschungsarbeit in Auftrag gegeben hat, haben dies in ihrem Vorwort zum Buch sehr treffend zum Ausdruck gebracht: Ihnen sei nach Erscheinen des ersten Bandes über die Geschichte des De Gruyter Verlages im Nationalsozialismus klar gewesen, „dass die Geschichte 1945 nicht endet“. Die Eigentümer des Familienunternehmens De Gruyter waren besonders an der Frage interessiert, wie sich der langjährige Verleger Herbert Cram nach dem Krieg gegenüber Autoren verhielt, zu denen er – der NS-Ideologie folgend – die Verbindung abgebrochen hatte.
Herbert Cram prägte bis zu seinem Tod 1967 den Verlag Walter de Gruyter. Insofern bot es sich an, den Fragen von Kontinuität oder Brüchen nach den veränderten politischen Rahmenbedingungen von Mai 1945 an nachzugehen.
AH: Was haben Sie denn herausgefunden bezüglich Herbert Crams Verhalten gegenüber Autoren, die während des Kriegs fallen gelassen wurden?
AK: Aus den Quellen ist keinerlei Bemühen zu erkennen, sich mit dem Schicksal vertriebener oder gar ermordeter Verlagsautoren zu beschäftigen, obwohl viele von ihnen De Gruyter Jahre, teils Jahrzehnte eng verbunden gewesen waren. So geriet zum Beispiel die wegweisende Arbeit, die der jüdische Philologieprofessor Hans Sperber bei einem Vorzeigeprojekt De Gruyters, “Trübners Deutschem Wörterbuch”, gespielt hatte, völlig in Vergessenheit. Als Sperber infolge des “Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” vom 7. April 1933 seine Lehrtätigkeit in Köln hatte aufgeben müssen, hatte ihn der Verlag immer stärker aus dem Projekt gedrängt und den ins Exil in die USA vertriebenen Wissenschaftler schließlich ganz fallen lassen. Da das Wörterbuch während der NS-Zeit nicht fertiggestellt werden konnte und der Herausgeber Prof. Dr. Alfred Götze 1946 starb, wäre der Versuch einer Kontaktaufnahme zu Sperber, der bis 1955 an der Ohio State University in Columbus lehrte, nicht ganz abwegig gewesen. Offenbar gab es aber keinerlei diesbezügliche Bemühungen vonseiten des Verlages.
Daraus folgt aber nicht, dass Herbert Cram Berührungsängste gegenüber vom NS-Regime verfolgten Autoren gehabt hätte. Der berühmte Philosoph Hans Leisegang, den die Nationalsozialisten nach einer Denunziation von seinem Jenaer Lehrstuhl vertrieben hatten und dessen Werke De Gruyter in der Folge nicht mehr zu drucken bereit gewesen war, lehrte seit November 1948 an der FU Berlin. Ende 1949 fragte der Verlag an, ob Leisegang Interesse habe, für die Sammlung Göschen eine “Einführung in die Philosophie” zu schreiben. Das Bändchen erschien 1951, und bis 1973 folgten sieben weitere Auflagen.
AH: „Den Krieg haben wir […] merkwürdig gut überstanden, nicht so den Zusammenbruch und die Nachzeit“, schrieb Herbert Cram seinem Sohn im Jahr 1946. Was waren zu jener Zeit die größten Herausforderungen für den Verlag?
AK: Zunächst wurden Druckerzeugnisse jeglicher Art streng von den vier Besatzungsmächten kontrolliert. Herbert Cram erhielt zwar als erster wissenschaftlicher Verleger in Berlin bereits am 3. Oktober 1945 die allgemeine Verlagslizenz, aber der Verlag war vor dem Verkauf jedes Titels gezwungen, eine Erlaubnis der Militärregierung einzuholen. Mehrere Titel mussten zudem makuliert werden. Das Damoklesschwert der Zensur schwebte über jedem Publikationsvorhaben.
Hinzu kamen für alle Unternehmen administrative Herausforderungen wie die erforderlichen Genehmigungen für Personaleinstellungen oder -entlassungen. Strom und Papier fehlten. Das Verlagsgebäude hatte Bombenschäden erlitten. Auch die Kontaktaufnahme zu vielen Autoren gestaltete sich schwierig; einige waren noch in Kriegsgefangenschaft, andere mussten erst wieder ausfindig gemacht werden. Manuskripte waren verloren gegangen und das große Lager in Trebbin war von den Sowjets beschlagnahmt worden.
AH: Wie wirkten sich Besatzung, Kalter Krieg und Mauerbau auf die Verlagsprozesse aus?
“Die politische Entwicklung in Berlin kann in ihrer Bedeutung für das Verlagswesen und damit natürlich auch für De Gruyter kaum überschätzt werden.”
AK: Die politische Entwicklung in Berlin kann in ihrer Bedeutung für das Verlagswesen und damit natürlich auch für De Gruyter kaum überschätzt werden. Zunächst mussten sich die Verlage wegen der Viermächteverwaltung der Stadt an den Intentionen und Direktiven aller vier Besatzungsmächte ausrichten, was im Vergleich zu anderen Verlagsorten eine besondere Herausforderung bot. Als sich die in der Bundesrepublik ansässigen Verlage nach der Währungsreform im Juni 1948 wirtschaftlich konsolidierten, geriet die Situation wegen der völligen Abriegelung West-Berlins durch die Sowjetunion vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 zur existenziellen Krise.
Herbert Cram hielt bis Ende 1950 auch an der Leipziger Zweigniederlassung fest, die die in Leipzig befindlichen Bücher des Verlags verwaltete und von dort aus auch die sowjetische Besatzungszone belieferte. Auch nach der Berlin-Blockade 1948/49 ließ De Gruyter in der DDR Bücher und Zeitschriften herstellen.
Der August 1961 veränderte die Lage in Berlin dramatisch. Mit dem Bau der Mauer war die Trennung der Stadt besiegelt. Neben den langfristigen Konsequenzen hatte dies zur Folge, dass über Nacht etwa ein Drittel der damals 124 Mitarbeiter der Druckerei nicht mehr zur Arbeit erscheinen konnte. Der Absatz von Büchern in die DDR und die Ostblock-Staaten, der bereits seit längerer Zeit stark zurückgegangen war, kam fast zum Erliegen. Herbert Cram und auch sein mittlerweile in die Geschäftsführung aufgenommener Sohn Kurt-Georg hielten jedoch – wohl nicht zuletzt aus patriotischen Gründen – am Verlagsstandort Berlin fest.
AH: Der Hauptteil Ihres Buchs endet 1967 mit dem Tod Herbert Crams. Wie veränderte sich die Ausrichtung des Verlags nach der Übernahme durch Kurt-Georg Cram und Kurt Lubasch?
AK: Herbert Cram hatte den Verlag von 1923 an geleitet und verharrte in seinen Vorstellungen von Unternehmensführung und seinem persönlichen Idealbild von einem wissenschaftlichen Universalverlag. Damit verhinderte er einen Aufbruch und die notwendige Neuausrichtung. Weder hielten neue Wissenschaftsdisziplinen noch ein moderner Führungsstil Einzug. Auch der Aufbau neuer Standorte war für ihn nicht zwingend. Vor allem eine internationale Ausrichtung wurde erst von den neuen Geschäftsführern Kurt-Georg Cram und Kurt Lubasch ab Mitte der 1960er-Jahre eingeleitet. Sichtbaren Ausdruck fand dies in der Gründung des New Yorker Tochterunternehmens 1971. Der eigentliche Durchbruch auf dem Weg zur Internationalisierung war der Erwerb des niederländischen Verlages Mouton Publishers 1977, der zahlreiche US-amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter Vertrag hatte und bereits 80 Prozent seiner Publikationen in englischer Sprache veröffentlichte.
AH: Sind Sie bei Ihrer Forschung auf Erkenntnisse gestoßen, die Sie besonders überrascht haben?
AK: Überrascht vielleicht weniger, weil der Verlag De Gruyter bis heute seinen Sitz in Berlin hat, aber bemerkenswert ist dieses Verharren auf dem Standort Berlin – trotz aller politischen Entwicklungen – durchaus. Es gibt ja z.B. mit Springer auch prominente Gegenbeispiele.
Die Kontinuität der Verlagsarbeit, die nicht von der Person Herbert Cram zu trennen ist, ist zudem wirklich bemerkenswert. Wenn man auf die großen Reihen, Editionen oder Zeitschriften schaut, wird eine teilweise jahrzehntelange Kontinuität sichtbar.
AH: Die Verlagsgeschichte gilt nicht gerade als “Hot Topic” in den Geschichtswissenschaften – was interessiert Sie generell an der Geschichte von Verlagen?
AK: Mir ist es unerklärlich, wie jemand Verlagsgeschichte als wenig spannend, gar langweilig empfinden kann. Gerade die Geschichte eines wissenschaftlichen Universalverlags, wie es De Gruyter war und heute noch ist, ist untrennbar mit Wissenschaftsgeschichte verbunden. Wie wenig oder viel sich die jeweiligen Wissenschaften vom politischen System vereinnahmen lassen, wie sehr sie von staatlichen Aufträgen und Konjunkturen abhängig sind, spiegelt sich immer auch in der Verlagsarbeit wieder.
AH: Vielen Dank für das Gespräch!
[Titelbild: Das Verlagsgebäude in der Genthiner Straße, 1945. Unterschrift: „Das Haus ist schwer von Bomben beschädigt und alles was nicht niet und nagelfest war wurde entwendet oder als Ofenfeuerung verbrendt.“ (Archiv von De Gruyter)]