Über Lesen und Liebe in Zeiten von Corona: Ottmar Ette im Interview

Die Pandemie verändert das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz. Kann uns Literatur in diesem Spannungsfeld als Lebenshilfe dienen?

Die ungekürzte Version unseres Gesprächs mit Prof. Ette gibt es auch als Podcast zum Hören.

„Wir lernen Liebe so, wie wir lesen und schreiben lernen“, sagt Ottmar Ette, Professor für Romanische Literaturwissenschaft. In seinen Vorlesungen an der Universität Potsdam hat er es sich zur Aufgabe gemacht, dem größten aller Gefühle und seiner Verbindung zum Akt der Lektüre nachzugehen. In einem spannenden und thematisch breit gefächerten Interview sprachen wir mit ihm über das Lesen während der Krise, die Lust an der Krankheit und darüber, was Corona mit uns und unseren Beziehungen macht.

De Gruyter: Danke, dass wir heute mit Ihnen sprechen dürfen, Herrn Ette! Neben steigenden Corona-Fallzahlen ließen sich in den vergangenen Monaten auch steigende Verkaufszahlen von Werken wie „Die Pest“, „Das Decameron“ oder „Liebe in den Zeiten der Cholera“ feststellen. Wie erklären Sie sich die Lust von LeserInnen, sich auch in Krisenzeiten literarisch mit solchen Themen zu beschäftigen – anstatt eher eskapistische Werke zur Hand zu nehmen?

Ottmar Ette: Seuchen begleiten unser Leben, und sie begleiten auch unsere Weltgeschichte. Bei der ersten Phase der beschleunigten Globalisierung war es die Syphilis, und in unserer Phase beschleunigter Globalisierung, so ab Mitte der achtziger Jahre, war es dann AIDS, das sozusagen ein Vorspiel bot. Und jetzt, nach Abschluss dieser Beschleunigungsphase in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, ist es Corona.

Es sind immer Zeiten sehr intensiver Lektüre und Selbstvergewisserung. Literatur leistet, wenn man das so sagen kann, eine Art von Lebenshilfe, eine Art Orientierung für Leserinnen und Leser, um sich der eigenen Situation zu vergewissern, um auch Wirklichkeiten dieser Situation anders zu verstehen, anders zu denken und in sich selbst abzuarbeiten. Literatur ist da eine sehr, sehr starke Lebenshilfe.

DG: Auf der anderen Seite gab es ja auch Versuche, schreibend mit Corona umzugehen, also mit Tagebüchern, Fortsetzungsromanen, Essays, etc. Wie sehen Sie dieses Phänomen? Können Sie sich vorstellen, dass es in 20-50 Jahren den einen oder mehrere Corona-Romane geben wird, die immer noch relevant sein werden?

OE: Ich glaube sicher, dass Corona eine starke literarische Zukunft haben wird. Das ist ja auch bei den AIDS-Romanen der Fall gewesen. Es ist, wenn ich das richtig sehe, in letzter Zeit nicht mehr sehr viel von AIDS-Romanen die Rede gewesen; es gab eine Art von Höhepunkt und dann ein Abklingen dieses Phänomens. So erwarte ich das eigentlich auch bei der Corona-Literatur. Es gab ja schon sehr viel, sehr früh Corona-Tagebücher, die das Thema vorbereitet haben. Das ist eine ganz typische Situation – dass das Dokumentarische, das Zeugnishafte zunächst einmal die Bühne betritt, bevor dann Fiktionen die weitere Entwicklung des Stoffes heranziehen und sicherstellen. In einem übertragenen Sinne denke ich sicher, dass Corona unsere Welt verändert hat, auch in der Art und Weise, wie wir unsere Realität fiktional nachgestalten.

DG: In Ihrem Buch „LiebeLesen“ geht es unter anderem auch um den eingangs erwähnten Roman „Liebe in den Zeiten der Cholera“ von Gabriel García Márquez. Im deutschen Titel geht die Doppeldeutigkeit des spanischen Begriffs „cólera“ ja leider verloren. [Anm.: „Coléra“ kann im kolumbianischen Spanisch auch so viel wie Hitze und Leidenschaft und bedeuten.]

OE: Das ist immer ein Verlust auf der Ebene der Übersetzung, im Re-Wording von Ausdrücken, die doppeldeutig in einer Herkunftssprache sind, und die in der Zielsprache nicht übersetzt werden können. Es gibt eine relativ gute Übersetzung von „El amor en los tiempos del coléra“ ins Deutsche, ich habe die deutsche Übersetzung allerdings immer selber gemacht. Das Buch „LiebeLesen“ beruht auf den eigenen Übersetzungen, wobei die Originalzitate im Anhang präsent sind, sodass sich der Leser oder die Leserin einfach orientieren kann. Bei Wortspielen habe ich grundlegend versucht, diese nachzubilden. Das ist auch der Sinn der eigenen Übersetzung – abgesehen davon, dass es mir immer sehr viel Spaß macht, Texte zu übersetzen. Ich bin gerade auch mit der Übersetzung von anderen Texten, aus dem 18. Jahrhundert, beschäftigt und das ist immer eine sehr schöne Tätigkeit, weil sie eigentlich eine zutiefst philologische Tätigkeit ist. Der Band basiert ja im Grunde auf einer großen Liebe zur Philologie, und diese Liebe zur Philologie soll sich eben auch auf der Ebene der Bezugstexte niederschlagen und darin zum Ausdruck kommen.

Der 1985 erschienene Roman „Liebe in den Zeiten der Cholera“ vom kolumbianischen Autor Gabriel García Márquez erzählt die Geschichte von Florentino Ariza und Fermina Daza, die sich im späten 19. Jahrhundert als Jugendliche verlieben, doch aufgrund gesellschaftlicher Zwänge und Hürden erst im hohen Alter, nach dem Tod von Ferminas Ehemann, zueinander finden. Zum Ende des Romans hisst das Liebespaar die gelbe Choleraflagge auf einem Flussdampfer, um dem „Grauen des wirklichen Lebens“ zu entrinnen, und überlässt sich somit seinem späten, ungestörten Glück.

DG: In Bezug auf den Roman sprechen Sie von „einem roten Faden von Pest und Liebe“, der die Geschichte durchzieht. Das ist ja ein durchaus beliebtes Paar in der Literatur, also Krankheit und Liebe. Wie genau äußert sich diese Verschränkung bei García Márquez?

OE: Im allgemeinen Sinne hat Liebe ja auch etwas mit dem Körper zu tun, allein schon in der Tradition, in der wir – das ist in anderen Kulturen nicht notwendigerweise so – Liebe im Herzen verorten. Allein davon leiten sich natürlich ungezählte Körpermetaphoriken her, die in Texte miteingehen. Liebe als Krankheit ist natürlich immer auch eine Dimension dieser Körpermetaphorik. Das heißt, der Körper der Liebenden wird von der Krankheit der Liebe befallen und reagiert dann nicht mehr auf normale Weise.

Sehr spannend ist das Auseinandertreten von Körper und Leib, also dem Auseinandertreten zwischen „being a body“ und „having a body“ – zum einen der Körper als ein Objekt, das ich gestalten kann, indem ich meine Haare und Fingernägel schneide, mich pierce und so weiter, und zum anderen der Leib mit der Fähigkeit Schmerz, Lust und mehr zu spüren.

All das ist natürlich im Komplex der Liebe ganz wesentlich mit inbegriffen, und insofern ist Krankheit eine wichtige Facette dieser Beziehung zwischen Ich, Körper, Leib und Liebe – sicherlich auch das passive Befallenwerden von der Krankheit der Liebe, aber auch die Lust an der Krankheit. Das merkt man bei García Márquez sehr schön – die Lust, die empfunden wird, in diese Krankheit hinein zu gleiten und sich aus der Gesellschaft heraus zu verabschieden. Krankheit hat ja meistens etwas damit zu tun, dass sich ein Subjekt oder mehrere Subjekte aus der Gemeinschaft der Gesellschaft verabschieden und vereinzeln. In diesem Falle sind sie zu zweit an Bord eines Schiffes, also an Bord einer Heterotopie, die sich über das Fließende bewegt – über den Fluss, über das Leben, das in eine einzige Richtung geht, eben immer flussabwärts. Dagegen können die beiden Liebenden auf ihrem Schiff mit der ständig gehissten, gelben Cholera-Flagge den Fluss auch mal flussaufwärts fahren.

Liebe ist also auch ein Ausnahmezustand, ein liebevoll erfahrener, gelebter und geliebter Ausnahmezustand, der natürlich auch das Körperliche ganz wesentlich miteinschließt. Krankheit ist im Grunde nur eine der Dimensionen, die wir mit unseren Körpermetaphoriken in unserem Verhältnis zur Liebe einnehmen. Krankheit ist insofern eine Stellung und von daher in gewisser Weise eine Liebesstellung.

DG: Welche Rolle kommt in dieser Konstellation dem Arzt zu, der prominent vertreten ist durch den Ehemann von Fermina Daza?

OE: In García Márquez‘ Fiktion spielt der Blick des Ehemanns natürlich eine besondere Rolle. Es ist ja zunächst einmal der medizinische Blick, der männliche Blick auf den weiblichen Körper, abstrahiert von der erotischen Dimension. Dem Arzt kommt da eine besondere Rolle zu, insofern er diesen Blick entfaltet, entwickelt und immer wieder auf eine objektive Grundlage rückführt. Da geht es um den Körper als etwas, das mir zur Verfügung steht, das ich auch zum Objekt machen kann, das ich abhorchen kann, dessen Herzschlag ich kontrollieren kann, Fieber messen kann und so weiter. Die Dimension der Leiblichkeit kommt dann zu einem späteren Zeitpunkt und sozusagen hinterrücks; der Arzt wird vom Leib in gewisser Weise überwältigt.

“Liebe hat auch immer die Dimension einer gelernten Erfahrung.”

García Márquez lässt uns eigentlich sehr schön nachvollziehen, wie sich dieses Geschehen der Liebe ereignet. Und er zeigt zugleich auch die verschiedenen Reaktionen des weiblichen Ichs, das nicht nur medizinisch betrachtet werden will, das aus seiner Objektrolle heraus und als Subjekt wahrgenommen werden möchte – und er zeigt damit auch diese leibliche Dimension. Zugleich hat Liebe auch immer die Dimension einer gelernten Erfahrung. Wir lernen Liebe so, wie wir lesen und schreiben lernen.

DG: Wie Sie schon sagten, begibt sich das Liebespaar am Ende des Romans bewusst in Isolation auf den Fluss, wo es sich selbst genügt, und vor dem Grauen der Welt zurückzieht. Ist das eine positive Botschaft, die man in Zeiten von Quarantäne und Home Office aus der Geschichte ziehen könnte?

OE: Ich weiß nicht, ob sich gerade das Home Office für Liebe, Liebeserfahrung und Liebeserleben so wirklich eignet. Wir sind ja, wie auch in diesem Gespräch, voneinander getrennt und inszenieren bestimmte Ausschnitte von Räumen, die nur einen ganz bestimmten Teil unseres eigentlichen Lebensraumes bieten. Interessanterweise glaube ich schon, dass in der Heterotopie des Schiffes, das auf dem Fluss des Lebens fährt, etwas von dem eingeholt wird, was wir im Home Office und den separaten Räumen nicht haben können, nämlich den geteilten Lebens- und Liebesraum. Das ist eine, glaube ich, doch recht wichtige Unterscheidung von unserer aktuellen Situation.

Es ist ohne Zweifel so, dass gerade auch Liebesbeziehungen in Zeiten des Coronavirus, stärker auf sich selbst zurückgeworfen sind. Im Bekannten- und Freundeskreis und auch im Auseinandergehen von Beziehungen kann ich das sehr stark sehen. Ich finde es spannend, dass man die Situation der Liebe unter den Bedingungen des Coronavirus im Grunde nochmal neu lernen muss oder eben auch an der Liebe scheitert, in der Zweisamkeit, die dann – „L’enfer c’est les autres“ – zur Hölle werden kann. Insofern stellt uns die Corona-Situation da vor einige Probleme, und dass die Literatur – in diesem Gewirr aus Problemen, aus Gefühlen, aus übersteigerter Nähe und „Gefangensein“ im eigenen Raum – durchaus eine wichtige Rolle spielen kann, steht ganz außer Frage. Ich glaube schon, dass das ein Kapitel wäre, dass man bei einer Wiederaufnahme des Buchs „LiebeLesen“ noch einmal anfügen könnte.

DG: Um noch einmal auf das Thema Isolation und räumliche Distanz zurückzukommen, das ja auch bei García Márquez eine wichtige Rolle spielt: Vergeblich schreibt Florentino unzählige Briefe um mit Fermina in Kontakt bleiben zu können. Das ist auch etwas, das heute wieder vermehrt eine Rolle spielt – das Schreiben, also „LiebeSchreiben“ sozusagen. Wie sehen Sie das? Im Buch und zur aktuellen Situation?

OE: Das Schreiben von Liebe und Liebesgefühlen ist natürlich ein wichtiger Punkt. Ich erinnere mich dabei an die Liebespaare, die sich während der Corona-Zeit auf beiden Seiten der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz auffädelten und direkt miteinander sprachen, oder sich eben Botschaften schickten. Ich habe sehr viel über Kürzesttexte gearbeitet, und in Zeiten von SMS und elektronischen Medien ist diese Dimension natürlich eine ganz zentrale. Es gibt nicht mehr die Tradition des Briefeschreibens, wie wir sie meinetwegen aus dem 18. Jahrhundert, in diesen sehr ausführlichen, rhetorisch ausgefeilten, literarisch präzisen Dimensionen, kennen. Die Tatsache, dass wir heute über ganz bestimmte andere Möglichkeiten verfügen, Liebe zu schreiben und zu beschreiben, finde ich sehr spannend. Die finde ich ungeheuer spannend, weil das die Literatur auch selbst verändert – Literatur, die entweder die ganz großen Formen pflegt, oder auch Formen, die extrem kurz und extrem klein sind.

In „Liebe in Zeiten der Cholera“ muss sich die Beziehung von männlicher Seite zunächst einmal im Schreiben ausleben, ohne Erfüllung zu finden. Bei García Márquez gibt es mehrere Figuren, die unendlich viele Briefe schreiben und niemals Gehör finden. Aber in diesem Fall finden die Briefe letztlich doch Gehör und führen zu einem Zeitpunkt, als der eigentliche Ehemann die Bühne verlassen hat, dazu, dass sich die Jahrzehnte zuvor begonnenen Liebesverhältnisse am Ende realisieren. Das ist bei García Márquez eine relativ häufige Figur, die mit seinem eigenen Leben eigentlich relativ wenig zu tun hat, wenn man an seine eigene Liebesbeziehung zu Mercedes Barcha denkt. Aber im literarischen Sinne sind diese Verzögerungselemente für die Liebesbeziehung sehr wichtig, die – so ähnlich wie bei dem kolumbianischen Maler Botero – in barocker Überschwänglichkeit geschildert werden. Diese Verzögerung, dauert nicht nur einen Tag, eine Woche oder einen Monat, sondern ein ganzes Leben. Sie baut einen Spannungsbogen auf, der für die Liebe essentiell ist – ein Spannungsbogen, den man immer wieder neu aufbauen muss, damit Liebe sich erhält und damit Liebe präsent ist.

DG: Eingangs haben wir über Lektürevorlieben in Zeiten von Corona gesprochen. Welche Bücher würden Sie denn zur aktuellen Situation empfehlen?

OE: Da erwischen Sie mich jetzt ein bisschen auf dem falschen Fuß. Natürlich – das gebe ich gerne zu – habe ich auch noch einmal „La Peste“ von Camus gelesen; das ist einfach sehr spannend. Ich habe einen mexikanischen Freund, einen Schriftsteller, der gleich zu Beginn der Corona-Krise einen langen Essay in einer mexikanischen Zeitschrift veröffentlicht hat, in dem er die Corona-Krise als „Pest“ bezeichnet und diese Dimension durchgespielt hat – also nicht nur auf Camus bezogen, sondern in einem ganz allgemeinen Sinne. Und ich habe in der Corona-Zeit sehr viele Gegenwartsanalysen gelesen, auch literarische Fiktionen von Corona. Ich habe weniger die historische Tiefe ausgelotet. Ich bin mit vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in Kontakt, deren unterschiedliche Analysen und auch kurze Essays zu Corona ich gelesen habe. Diese Lektüre hat mich selber auch in der Abfassung meines neuen Buchs geprägt.

Also, ich habe eigentlich kein bestimmtes Werk, das ich jetzt – von Camus abgesehen – empfehlen würde, denn Literatur ist im Grunde immer eine Art von Ausnahmezustand, in dem wir, wie in einem Labor, die Dinge erproben, literarisch entwickeln und literarisch an uns selbst durchexerzieren können, die wir vielleicht in unserem realen Leben nicht durchführen können. Aber wir können etwas von dem lernen, was die Literatur uns da anbietet. Wir können Literatur in unser Leben integrieren und das Gelesene in das Gelebte und natürlich auch in das Geliebte übersetzen.

DG: Vielen Dank für das Gespräch!

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[Title Image via Getty Images]

Ottmar Ette

Prof. Dr. Ottmar Ette ist Lehrstuhlinhaber für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Seine Forschung ist in knapp 40 Monographien in verschiedenen Sprachen, in mehr als 60 Sammelbänden und über 500 Aufsätzen dokumentiert.

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