Lieber gendersensibel als genderhypersensibel
Vehemente Abwehr auf der einen Seite, blinder Reformeifer auf der anderen: Fehlen uns in der Debatte um geschlechtergerechte Sprache die Zwischentöne?
Dieser Beitrag ist Teil einer Reihe zum Thema geschlechtergerechter Sprache.
Seit 35 Jahren bemühe ich mich mündlich und schriftlich um geschlechtergerechtes Formulieren und habe viel interaktions- und soziolinguistische Geschlechterforschung betrieben. Vor diesem Hintergrund fühle ich mich heute herausgefordert, manche Reformvorschläge kritisch zu betrachten.
Bemühungen, auch sprachlich mehr Geschlechtergerechtigkeit walten zu lassen, gibt es im deutschsprachigen Raum seit gut 40 Jahren. Die feministische Sprachkritik bemängelte den vermeintlichen gedanklichen Einschluss von Frauen im sogenannten „generischen Maskulinum“. Mittlerweile liegen über 20 (psycho-)linguistische Untersuchungen zur Überprüfung solcher Personenreferenzen vor. Über unterschiedliche Methoden und Designs wird in mündlichen wie schriftlichen Rezipiententests und Reaktionszeitexperimenten der Frage nachgegangen, ob Maskulina wie Einwohner, Tourist, Lehrer ausschließlich, mehrheitlich oder paritätisch männliche Assoziationen evozieren.
Den aktuellen Forschungsstand haben Damaris Nübling und ich im Jahr 2018 zusammengetragen. Sämtliche Untersuchungen kurzer Texte (meist drei bis vier Sätze) weisen in die gleiche Richtung: Unter „der Lehrer“ oder „der Freiburger“ stellen wir uns eher einen Mann vor, erst recht, wenn man sich mit „er“ und „sein“ auf ihn rückbezieht. Beim Plural sieht es für Frauen schon deutlich besser aus.
“Die Sprachreformen gehen mit einer großen Freude am Leitfaden einher.”
In vielen Leitfäden wurden unterschiedliche Strategien für geschlechtergerechtes Formulieren empfohlen. Da sich diese Leitfäden in ihren Empfehlungen entsprechen, kann man sich schon darüber wundern, warum so viele Städte und Universitäten eigene Leitfäden fürs gendersensible Formulieren benötigt haben. Die Sprachreformen gehen jedenfalls mit einer großen Freude am Leitfaden einher. Seither walten im öffentlichen Raum, auf Ämtern, an Unis, in den Medien und Kunsthallen unterschiedliche Strategien der Beidnennung oder der Kurzschreibung derselben mit Zeichen, denen neuerdings eine eigene Referenzleistung zugeschrieben wurde. Bestimmte Zeichen sollen vor unseren inneren Augen jetzt weitere Personentypen erzeugen. Wir befinden uns insgesamt in einer Phase des Experimentierens. Die Eine schreibt mit Schrägstrich an der Morphemgrenze (Italiener/innen), der Andere neuerdings etwa mit Doppelpunkt (Finn:innen).
Gemischte Reaktionen
Um die Akzeptanz dieser Reformen steht es in der Bevölkerung etwa fifty/fifty. Laut einer vom Meinungsforschungsinstitut Unique research 2014 durchgeführten Umfrage für das Nachrichtenmagazin „profil“ sprechen sich 55 % der österreichischen Bevölkerung für eine geschlechtergerechte Sprache aus, 40 % sind dagegen. Das Meinungsforschungsinstitut INSA-Consulere kommt hingegen 2019 im Auftrag des sprachreformkritischen Vereins Deutsche Sprache zu anderen Ergebnissen: Danach nutzen 80 % der Befragten privat keine gendersensible Sprache, 74,6 % auch beruflich nicht. Mehr als 50 % empfinden entsprechende Vorschriften als störend und 75,3 % lehnen gesetzliche Vorschriften zur genderneutralen Sprache ab.
Je nach Befragungsart fallen also die Ergebnisse unterschiedlich aus. Festzuhalten bleibt einerseits, dass längst nicht die Mehrheit vom Reformeifer in der Öffentlichkeit und zu Hause beseelt ist. Andrerseits findet sich in den öffentlichen Debatten meist ein simples Pro und Kontra: Entweder durchgängige Beidnennung (oder neuerdings Dreifachnennung) oder wir könnten prinzipiell jede maskuline Personenreferenz als geschlechterübergreifend wahrnehmen. Zwischentöne sucht man vergeblich. Dabei stimmen alle darin überein, dass bei konkreter Bezugnahme auch das Geschlecht stimmen muss: Merkel ist nirgends„der Kanzler“. Leider wird wenig debattiert, dass man in langen Texten Benennungsstrategien auch wechseln kann. Ein geschlechterübergreifend gemeintes Maskulinum ist vor allem im Plural okay (z.B. „die Demonstranten“), wenn an anderer Stelle im Text deutlich wird, dass auch Frauen und Diverse auf der Demo waren.
Sonderzeichen als Politikum
Inzwischen geistern auch Vorschläge durch die Landschaft, die wohl eher dafür sorgen, dass viele ihre Lust aufs Gendern wieder einbüßen. Lann Hornscheidt lehnt das Femininmorphem-in als „sexistisches mittel“ ab, mit der Begründung, es betreibe „exklusivgenderung personaler appellation für frauisierte über -in-formen“ und verstärke „androgenderung“. Persson Perry Baumgartinger meint, der Unterstrich eröffne „unendlich viele Begrifflichkeiten zwischen den Geschlechtern.“ Solche Begründungen für die Bedeutung bestimmter Zeichen sind linguistisch gesehen starker Tobak. Wir finden diese Unterstriche oder Sternchen u. a. in Missy, einigen linken und feministischen Internet-Plattformen wie change.org und Pinkstinks, aber auch zunehmend an Universitäten, im Kunstbereich oder bei Verlagen (etwa bei diesem Blog).
Der Leitfaden der Stadt Freiburg der Geschäftsstelle Gender&Diversity dehnt die Schreibweise sogar auf Referenzen auf die Stadt aus:
„Wir sind sowohl Dienstleister_in für die Bürger_innen wie […] Ebenfalls handeln wir als zweitgrößte Arbeitgeber_in der Stadt […]“
“Ein graphisches Sonderzeichen soll an jeder Stelle des Auftretens eine mehrschichtige Gedankenevokation leisten.”
Die in den Ratgebern getroffene Aussage, der Unterstrich oder das Sternchen stellten die Selbstverständlichkeit der Zwei-Geschlechter-Ordnung in Frage und darüber hinaus auch heterosexuelle Normen, ist heftig. Ein graphisches Sonderzeichen soll demnach an jeder Stelle des Auftretens eine mehrschichtige Gedankenevokation leisten. Das wurde irgendwo in Berlin und Wien einfach so beschlossen.
Folgsam haben wir jetzt bei jeder Personenreferenz mit * mindestens drei Personentypen vor Augen, beispielsweise eine Lehrerin, einen Lehrer und eine nichtbinäre Lehrperson. Wie schaut diese aus? Im Zweifel langhaarig und mit Bart? Aber da machen wir es uns sicher zu einfach. Dann sind wir auch noch aufgefordert, uns deren Sexualität auszumalen. Siehst du also vor deinem inneren Auge die Lehrperson nicht nur, wie sie vor der Klasse steht, sondern auch im Bett, etwa mit einer anderen Lehrperson?
Auf der Webseite des Kompetenzzentrums „gender and diversity“ (TH Nürnberg) heißt es beispielsweise, der Unterstrich
„[…] stellt darüber hinaus die Selbstverständlichkeit Norm in Frage und will auch denjenigen einen sprachlichen Ort verleihen, die bislang vorwiegend nicht oder nur als „Abweichung“ wahrgenommen werden (Intersexuelle, Transsexuelle, Homo- und Bi-Sexuelle, Transgender, Crossdresser, Drags usw.). Der Unterstrich symbolisiert mithin nicht nur die bisweilen sehr fließenden Übergänge zwischen „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“, sondern auch einen Ort, an dem Überschneidungen und Wanderungen zwischen Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen einen Platz haben.“
Gut gemeint, aber nicht gut gemacht
Mit einem solchen Programm sollen wir zu Genderhypersensibelchen gemacht werden. Ich kann mir aber meine Kognition nicht von einem Kompetenzzentrum vorschreiben lassen, das ich nicht kompetent finde. In meiner Wahrnehmung hängt besonders der Unterstrich Frauen symbolisch ab: Geiger_innen. Ganz zu schweigen von der Aussprache bei Komposita: Bürger-Innensaal hört man neuerdings sogar sonntags von Anne Will. Wer hat eigentlich Lust, sich mit einer Lücke zu identifizieren? Warum haben wir als abgekoppelter Innen-Anhang kaum etwas mit dem Kern davor zu tun? In der natürlichen Aussprache sind wir ja „Geige-rinnen“.
Mich wundert nicht, dass Schriftsteller/innen den Gesinnungs- und Gängelungsduktus monieren, der dem innewohnt, dass überhaupt so viele Leitfadengenerationen fabriziert wurden. Eva Menasse hält es in der ZEIT wie folgt:
„Ich werde niemals gender-‚gerecht‘ […] schreiben, ich werde immer ungerecht, subjektiv, stur und nach meiner eigenen Façon schreiben. Sexisten und Rassisten dürfen weiterhin in meinen Texten auftreten, sonst wäre das literarische Abbild der Welt ja geschönt. Falls das eines Tages nicht mehr möglich sein sollte, werde ich gar nicht mehr schreiben. Dann werde ich mich bei Wasserin und Brotin in ein mannshohes, frauenrundes Gender-I aus Plexiglas einsperren lassen und mich dem Spott der Massinnen und Massen anheimgeben.“
Wenn ich in Forschung&Lehre 10/20 die übertriebenen Handlungsempfehlungen der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen lese, kann ich nur der Schriftstellerin Regula Venske zustimmen, die am 27. 9. 2020 im Deutschlandfunk-Interview mit Maja Ellmenreich (Sendung “Zwischentöne”) sagte:
„Ich denke auch im Moment, manches wird übertrieben und dann ist es nicht mehr schön. Also, als Schriftstellerin möchte ich eine schöne Sprache haben. Es sollte auch nicht geregelt werden, von einer Senderleitung, der Chefredaktion bei einer Zeitung, sondern die Sprache wird von den Menschen verändert, die sie benutzen. Und das geschieht ja auch dauernd. Das muss nicht geregelt werden. Da können wir uns Mühe geben, uns was einfallen lassen. Also ich plädiere sehr für einen spielerischen Umgang mit den Themen.“
In der öffentlich-rechtlichen Mehrländeranstalt Deutschlandradio wird nach einem internen Leitfaden zur geschlechtergerechten Sprache jetzt durchgängig gegendert, auch mit dem Glottisschlag vor dem „innen.“ Das ist gut gemeint, aber leider nicht gut gemacht, weil es künstlich wirkt. Gerade Journalist/innen sollten uns vormachen, wie textästhetische Ansprüche mit Gendersensibilität einhergehen könnten. Sprachgefühl darf weiterhin sein, oder?
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