Israelis, Palästinenser und Deutsche: Das Moralische Dreieck
Wie leben Israelis und Palästinenser in Berlin? Welche Rolle spielen Holocaust und Nahostkonflikt? Und wie steht es um Versöhnung und Verantwortung innerhalb des komplexen „moralischen Dreiecks“ zwischen Palästinensern, Israelis und Deutschen? In über 100 Gesprächen gingen Sa’ed Atshan und Katharina Galor diesen Fragen nach. Herausgekommen ist ein spannendes Kaleidoskop gegenwärtiger Berliner Stadtgeschichte.
Dieser Text ist das Vorwort aus dem Buch “Israelis, Palästinenser und Deutsche in Berlin – Geschichten einer komplexen Beziehung”.
Wir saßen an einem Tisch im Café Atlantic in der Bergmannstraße in Kreuzberg, einem der angesagtesten Viertel Berlins, das noch vor nicht allzu langer Zeit für seine große türkischstämmige Gemeinschaft bekannt war, aber in den letzten Jahren auch zu den Stadtteilen gehörte, die eine große Zahl von Palästinensern und Israelis angezogen haben. Wir hatten gerade einen Tag mit Interviews hinter uns, rannten von einem Ort zum anderen und fanden kaum die Zeit, uns auszutauschen und die Gespräche mit den Israelis, Palästinensern und Deutschen zu verarbeiten, die wir interviewt hatten.
Zudem waren wir voller Erwartung. Wir waren mit Yael Ronen verabredet, der jüdisch-israelischen Theaterregisseurin, die etwa fünf Jahre zuvor aus Israel nach Berlin gezogen war. Wir kannten die Aufführungen ihrer Stücke im Maxim Gorki Theater, wo deutsche, israelische und palästinensische Schauspielerinnen und Schauspieler gemeinsam auf der Bühne standen und abwechselnd Deutsch, Englisch, Hebräisch und Arabisch sprachen. Sie folgten dabei ihrer inneren Stimme und brachten ihr eigenes reales Leben zugleich in einen Dialog mit den Geschichten, die Ronen konzipiert hatte. Verblüfft stellten wir fest, dass die Themen, die wir seit nunmehr fast zwei Jahren untersuchten, auf eine so lebendige, kreative, bunte und mutige Weise auf der Bühne behandelt wurden, und das mitten in Berlin.
Nachdem wir uns entschlossen hatten, die großen Berliner Gemeinschaften von Israelis und Palästinensern sowie deren Verhältnis zur deutschen Gesellschaft und Politik zu erforschen, sahen wir uns erst einmal genau an, wie die israelischen, arabischen, englischen und deutschen Medien über die Themen berichteten, die uns interessierten. Außerdem sichteten und lasen wir alle wissenschaftlichen Analysen, die wir dazu finden konnten. Dies alles diente der Vorbereitung unserer Feldforschung, die auch Interviews und Treffen mit Israelis, Palästinensern und Deutschen umfasste, die in Berlin wohnten.
Wir waren schon lange große Fans von Ronens Arbeiten, vor allem ihrem Stück The Situation. Wir kannten auch ihren ehemaligen Mann, Yousef Sweid, einen palästinensischen Tänzer und Schauspieler, mit dem sie noch immer als Freund, Kollege und aufgrund der gemeinsamen Erziehung ihres zehnjährigen Sohnes verbunden war. Ronen und Sweid arbeiten am Maxim Gorki Theater eng zusammen.
Eine Woche zuvor hatten wir uns mit der bekannten deutschen Journalistin Carolin Emcke getroffen, um über gemeinsame Interessen und Erfahrungen zu sprechen, vor allem im Zusammenhang mit Emckes Arbeiten zur Situation im Nahen und Mittleren Osten. Sie sagte, dass wir Ronen unbedingt kennenlernen müssten, und stellte auch gleich den Kontakt her.
Diese Begegnung stellte sich als ganz entscheidend heraus für unser Verständnis des enormen Konfliktpotenzials, das dem von uns gewählten Thema zukam. Die deutsche und israelische – zum Teil auch die internationale – Presse war voll von Berichten über die jungen Israelis, die es nach 2011 nach Berlin gezogen hatte. Unzählige wissenschaftliche Aufsätze und mehrere Bücher waren diesem Phänomen gewidmet, und weitere Publikationen sind in Vorbereitung. Die palästinensische Gemeinschaft in Berlin wiederum, die mehr als doppelt so umfangreich ist wie die israelische, wird dagegen kaum erwähnt; auch haben sich nur wenige bislang für diese Bevölkerungsgruppe interessiert.
Als Ronen auf ihrem Fahrrad ankam, waren wir beeindruckt, wie schön und elegant sie war – eine Kombination von israelischer Geradlinigkeit und Berliner Weltoffenheit. In der deutschen Theaterwelt nennt man sie gern „eine Art Generalsekretärin der Weltkonflikte“, da sie auch die kompliziertesten sozialpolitischen Themen nicht scheut und sie in verständnisvollen Humor verwandelt. Sie erzählte uns von dem Stück, mit dem ihre internationale Karriere begann: Third Generation, das sich dem Thema der vererbten Schuld, heutigen Konflikten und den komplizierten Beziehungen – geradezu ein gordischer Knoten – widmet, die Deutsche, Israelis und Palästinenser als nationale Gruppen definieren.
Als das Stück zum ersten Mal im Habima Nationaltheater in Tel Aviv gezeigt wurde, versuchte die israelische Regierung, die Aufführung zu unterbinden. Ronen erzählte, man habe ihr angedroht, Antisemitismus-Vorwürfe publik zu machen, wenn sie Third Generation weiterhin in Israel und in verschiedenen Ländern Europas zeigen würde. Auf unsere Frage, warum die Behörden das Stück als so gefährlich einstuften, antwortete sie, die Vorstellung eines „Dreiecks“, das Deutsche, Israelis und Palästinenser verbindet, sei für jene schwer zu akzeptieren, die die Palästinenser nicht als legitime Opfer derselben historischen Umstände betrachten, die Deutschland seit dem Holocaust zur Unterstützung Israels veranlasst hatten. Ronen hielt an dem Stück fest, was ihrer Karriere einen gewaltigen Schub verlieh. Sie war damit einverstanden, dass wir diesen Teil ihrer Geschichte in unserem Buch erwähnen.
Dieses Ereignis machte für uns noch einmal deutlich, dass das Motiv des Dreiecks in diesem Zusammenhang einer gründlichen theoretischen Analyse mithilfe anthropologischer Instrumente bedarf.
Das Dreieck als Tabu
Unser nun auf Deutsch erscheinendes Buch behandelt das Dreiecksverhältnis zwischen Israelis, Palästinensern und Deutschen im heutigen Berlin. Es stellt die Frage nach der moralischen Verantwortung der Deutschen gegenüber Israelis und Palästinensern, die in der deutschen Hauptstadt wohnen. Auch wenn wir uns hauptsächlich auf die Gegenwart beziehen, sind wir uns darüber im Klaren, dass vergangene Ereignisse wie der Holocaust und die Nakba noch immer nachwirken. Und während unser geografischer Fokus Berlin ist, haben unsere Erkundungen natürlich einen Bezug zu ganz Deutschland und seinem Verhältnis zu Israel und Palästina.
Wenn es um die Frage der moralischen Verantwortung Deutschlands und der Deutschen gegenüber Israelis und Palästinensern in Berlin geht, scheinen Deutsche, Israelis und Palästinenser fünf verschiedenen Denkmustern zu folgen. Da gibt es jene, die nur die Pflicht zur Unterstützung der Israelis betonen; anderen geht es allein um die Pflicht zur Unterstützung der Palästinenser; die dritte Gruppe fordert die Unterstützung sowohl von Israelis als auch von Palästinensern; die vierte Gruppe wiederum will keine der beiden Gruppen unterstützen; und schließlich gibt es jene, die unentschieden oder unsicher sind im Hinblick auf die zentrale Frage unserer Studie.
Israelische und palästinensische Gemeinschaften sind heterogen. Wenn wir sie vergleichen, stellen wir fest, dass die Palästinenser demografisch die größere Gruppe darstellen (nach jüngsten Schätzungen gibt es etwa 45.000–80.000 Palästinenser und 11.000 –40.000 Israelis in der Stadt). Die meisten Palästinenser sind als Flüchtlinge nach Berlin gekommen. Die Migration von Israelis nach Berlin ist ein relativ neues Phänomen und vor allem durch sozioökonomische Faktoren motiviert. Auch wenn die beiden Gemeinschaften mehr oder weniger getrennt voneinander bestehen, gibt es doch eine Reihe von Möglichkeiten für Interaktion, Kommunikation und Kooperation.
“Dieses Dreiecksverhältnis ist in der Wissenschaft im Grunde ignoriert worden und stellt noch immer weitgehend ein Tabu dar, besonders in Deutschland und Israel.”
Dieses Dreiecksverhältnis ist in der Wissenschaft im Grunde ignoriert worden und stellt noch immer weitgehend ein Tabu dar, besonders in Deutschland und Israel. So verweist Julia Chaitin auf die Schwierigkeit, Brücken zwischen Israelis und Deutschen und zwischen Israelis und Palästinensern zu schlagen, doch es kommt ihr nicht in den Sinn, die Dreiecksbeziehung zwischen diesen Gruppen zu berücksichtigen.
Eine Asymmetrie zwischen der israelischen und der palästinensischen Lebenswirklichkeit in Berlin zeigt sich, wenn man sich die offizielle deutsche Haltung gegenüber den beiden Gruppen und die damit zusammenhängenden Diskurse anschaut. Der Prozess dessen, was in Deutschland als Vergangenheitsbewältigung bekannt ist, hat viel erreicht. Diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat sowohl ein tief sitzendes Schuldgefühl wegen des Holocaust erzeugt als auch das stetige Bemühen, sich von jeder Form des Antisemitismus zu distanzieren. Beide Positionen haben zu einem besonderen Verhältnis mit dem Staat Israel geführt sowie zu einer Vorzugsbehandlung der Israelis in Deutschland.
Gleichzeitig berichten Palästinenser davon, dass sie in Berlin verschiedene Formen der Zensur erleben. Dies ist das Ergebnis einer ausgesprochen starken Sensibilität gegenüber Diskursen und politischen Haltungen, die jede Kritik an Israel als Beweis für einen „neuen Antisemitismus“ betrachten. Hinzu kommt, dass Palästinenser in einem Klima von zunehmendem Rassismus und grassierender Islamfeindlichkeit in Deutschland in eine prekäre Lage geraten sind. Deshalb kann der Status von Israelis und Palästinensern in Deutschland, sowohl rechtlich als auch sozial, völlig unterschiedlich sein, mit entsprechenden Auswirkungen auf den privaten und öffentlichen Raum.
Am Ende unserer Untersuchung, nach all den Interviews und Gesprächen, der Sichtung vieler Zeugnisse, der Analyse von Medienberichterstattungen und der Fachliteratur, die wir herangezogen haben, überwiegt bei uns der Optimismus, wenn es um die Zukunft des deutsch-israelisch-palästinensischen Verhältnisses geht. Trotz aller Spannungen und Ängste, denen wir im Laufe unserer Arbeit begegnet sind, glauben wir mit Blick auf die Zukunft, dass ein Szenario vorstellbar ist, in dem Deutsche ihr Verständnis, ihr Mitgefühl und ihre Verantwortung auf beide Gruppen, Israelis wie Palästinenser, erweitern. Dies ist ermutigend, besonders wenn man die traumatische Vergangenheit in Deutschland und den israelisch-palästinensischen Konflikt in Rechnung stellt.
Unsere Untersuchung der moralischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israelis und Palästinensern – auf politischer wie philosophischer Ebene – ist untrennbar mit den empirischen Wirklichkeiten in Berlin verbunden. Unsere ethnografische Forschung zeigt die Möglichkeiten auf, wie die Stadt Israelis und Palästinenser zusammenbringen kann. Wenn Deutsche und Israelis also zur Versöhnung imstande sind und auch Israelis und Palästinenser sich aneinander annähern können, dann sollte es Deutschen und Palästinensern möglich sein, die Traumata anzusprechen, die sie verbinden.
Auch wenn der offizielle Diskurs des deutschen Staates eine uneingeschränkte Solidarität mit Israelis zeigt und dabei zugleich Palästinenser ausschließt, zeigt sich auf individueller Ebene und bei Basisgruppen eine zunehmende Anerkennung palästinensischer Erfahrungen und Narrative, die entsprechend ernstgenommen werden. Wir haben eine Zukunft vor Augen, in der die gegenseitige Anerkennung von Deutschen, Israelis und Palästinensern auf individueller Ebene letztendlich auch einen differenzierteren öffentlichen Diskurs ermöglicht, in dem Palästinenser als Gruppe sowie ihr spezifischer Ort im moralischen Dreieck gewürdigt werden.
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