#IchBinHanna: Und Jetzt?

Auf Twitter protestieren Wissenschaftler*innen gegen prekäre Arbeitsbedingungen an Hochschulen. Doch die Probleme des deutschen Wissenschaftssystems sind größer als #IchBinHanna.

Unter dem Twitter-Hashtag #ichbinhanna sammeln seit ca. Mitte Juni 2021 Wissenschaftler*innen in Deutschland Erfahrungsberichte zum und Kritik am Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG).

Titelgebend für die Aktion gegen Befristungen und konsequente Ausbeutung: ein Video des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, in dem erklärt wird, warum die Verheizung des sogenannten „Nachwuchses“ unbedingt nötig ist, um den Betrieb am Laufen zu halten, bzw. ihn nicht „zu verstopfen“. (Das Original wurde inzwischen entfernt, taucht aber noch bei YouTube auf.)

Es ist schön, eine so lebhafte Diskussion zu dem Thema mitzuerleben (wie auch schon seit November 2020 unter #95vsWissZeitVG, organisiert von Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon). Denn: Noch im Februar 2020 wurde meinem öffentlichen Unmut an meiner damaligen Jobsituation von einigen Professor*innen in meinem Umfeld mit Ablehnung und Zurückweisung begegnet. Es wäre schließlich „schon immer so gewesen“, und dass ich keinen Job fände hätte u.a. mit meinem Standort zu tun. Wie Ariane Leendertz nun nochmal eindrücklich aufgezeigt hat, war es definitiv nicht immer schon so: Befristungen haben massiv zugenommen und Programme wie Graduiertenkollege produzieren Unmengen an Doktorand*innen, ohne ihnen eine Perspektive auf eine anschließende Karriere zu bieten.

Anm. der Redaktion: Über die Herausforderungen von Geisteswissenschaftler*innen während COVID-19 berichten wir zuletzt in dem Artikel “Restricted access: How the Pandemic is Still Impacting Humanities Scholars”.

Arbeitslosigkeit und prekäre Situationen nehmen also seit Jahren deutlich zu, aber die Pandemie scheint für viele der ausschlaggebende Faktor, der das Fass nun endlich zum Überlaufen gebracht hat: nach bald 1,5 Jahren Onlinelehre – die viel zeitaufwändiger in Ihrer Vorbereitung ist – dem zeitgleichen Jonglieren von Kinderbetreuung und Arbeiten im Home Office, fehlendem Zugang zu Bibliotheken und Archiven, der geringen Chance auf coronabedingte Vertragsverlängerungen, und, und, und. Umso unglaublicher ist vor diesem Hintergrund die kürzlich von Anja Karliczek (CDU), Bundesministerin für Bildung und Forschung, im Bundestag getätigte Aussage, im Moment fände doch an Universitäten „gar nichts statt.“

Tradition statt Reform

Die prekäre Situation des Mittelbaus, die #ichbinhanna sichtbar macht, war vielen vor ihrem eigenen Start in die Promotion nicht bewusst. Selbst ein Akademikerhaushalt im Rücken, früher häufig ausreichend für Erfolg, reicht nun nicht mehr. Und einen solchen Hintergrund haben immer noch viele der Hannas. Selbst wenn meine Eltern weder Lehrer*innen noch Professor*innen sind, wäre ich ohne ihre finanzielle Unterstützung heute nicht mehr hier: von Lehraufträgen mit 500 Euro pro Semester (inkl. Vor- und Nachbereitung eines Kurses), selbst an sogenannten Eliteuniversitäten wie der LMU München, kann schließlich niemand Essen oder Miete zahlen.

“Das WissZeitVG hat nochmal verschlimmert, was vor ihm schon Problem war.”

Ohne die Aneignung von Insiderwissen funktioniert es nicht, auch, wenn manche von den einem erklärten Regeln oft nicht so zu stimmen scheinen, schaut man sich einige Lebensläufe der Gewinner des Systems an. So soll man z.B. die Uni nach der Dissertation unbedingt wechseln, um den sogenannten Stallgeruch zu vermeiden. Nur ein längerer Auslandsaufenthalt auf dem Lebenslauf qualifiziert einen für prestigeträchtigere Drittmittel – die bekommt man übrigens oft auch nur dann, wenn man schon institutionelle Anbindung hat. Bevor man so weit kommt, muss die Dissertation publiziert werden, aber definitiv bei einem richtigen Verlag, was oft 3000-6000 Euro Zuzahlung aus eigener Tasche kostet. All dies sind massive Gatekeeping-Mechanismen.

Was dies zeigt: das WissZeitVG hat nochmal verschlimmert, was vor ihm schon Problem war. Dazu gehört auch Konformitätsdruck und Beharren auf Traditionen, die dieses reformbedürftige System am Leben hält. Der Habitus des „deutschen Professors“ ist vielen völlig fremd, besonders, wenn man aus einer Arbeiterfamilie kommt. Und doch scheinen Chancen auf eine der immer seltener werdenden, entfristeten W2- oder W3-Professuren einem vor allem dann offen zu stehen, wenn man ihn beherrscht.

“Der sogenannte Nachwuchs soll, wie das Wort schon andeutet, am besten unmündig bleiben.”

Das heißt auch: Schweigen. Jegliche Kritik für sich behalten. Niemals den Verdacht auf Nestbeschmutzung wecken, denn vielleicht erinnern sich daran ja Gremienmitglieder bei der Berufung. Selbst wenn die Kritik gar nichts mit dem eigenen Arbeitsplatz zu tun hat. Aber Fakt ist, dass viel zu viele Machtmissbrauch auch dort nie melden – ob durch Chefs oder Betreuer*innen, ohnehin oft dieselbe Person. Der sogenannte Nachwuchs soll, wie das Wort schon andeutet, am besten ebenso unmündig bleiben. Ein Kind, dem etwas beigebracht werden muss. Das Lernen muss. Das selbst nicht entscheiden kann und soll.

Überhaupt: Der Begriff Nachwuchs verwundert weniger, wenn man bedenkt, dass wir unsere Betreuer*innen auch als Doktorväter und Doktormütter bezeichnen – das Patriarchat ist so tief im deutschen System verwurzelt, dass es als normal akzeptiert und oft kaum darüber reflektiert wird.

Viele hat das System daher längst hinter sich gelassen. Wer im Moment als Post-Doc zu #ichbinhanna twittert, nach jahrelanger finanzieller Unsicherheit, hat es oft nur soweit geschafft, weil Hautfarbe, Gesundheit, Geschlechtsidentität oder andere Faktoren nicht zum Nachteil gereicht haben, und anderweitige finanzielle Unterstützung vorhanden war.

Wie Hanin Hannouch und andere betonen, droht die Debatte auch jetzt wieder, viele Stimmen komplett verhallen zu lassen.

Wer ohne deutschen Pass, oder zumindest ohne EU-Pass, in Deutschland bleiben will, den droht das WissZeitVG noch schneller zu zermürben, denn auch die Aufenthaltserlaubnis ist an die Arbeitssituation gekoppelt.

Wer ein Visum will, ist außerdem permanenter Ausländerfeindlichkeit ausgesetzt. Auch in den Twitter-Kommentaren zu #ichbinhanna finden sich immer wieder Äußerungen gegenüber nichtdeutschen Kolleg*innen: sie sollen doch dankbar sein, dass sie in Deutschland bleiben dürfen, oder alternativ, wenn sie es doch so schlimm hier fänden, warum sie dann nicht einfach woanders hingehen.

BIPoC Kolleg*innen sind jeden Tag Alltagsrassismus ausgesetzt. Hierzu twittern viele jetzt auch zusätzlich zu #ichbinhanna unter #ichbinReyhan, Dank Wissenschaftlerin, Aktivistin und Rapperin Reyhan Şahin.

Spricht man das Thema systemischer/struktureller Rassismus in der deutschen Wissenschaft an, stößt man nach wie vor auf viel Ignoranz, Wut, whataboutism und white fragility. Nach dem Motto: Wer zu Themen wie African American History unterrichtet, kann doch kein Rassist sein?! Über 500 Mitglieder hat das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ inzwischen, meist lang entfristete oder gar schon emeritierte Professor*innen, die sich gegen solche „ideologisch motivierte Einschränkungen“ ihrer Wissenschaft wehren wollen. (Mittlerweile hat sich auch eine gleichnamige Gegeninitative gegründet.)

“Was es braucht, ist ein viel größeres Umdenken darüber, wie Universitäten und Wissenschaft in diesem Land funktionieren.”

Es geht mir hier nicht darum, Fronten zwischen Ent- und Befristeten zu verhärten, oder gar einen Generationenkonflikt heraufzubeschwören, auch wenn dieser sicherlich ein Stück weit mit verhandelt wird. Es ist auch positiv anzumerken, dass sich inzwischen ein paar Stimmen unter #ichbinhanna gemeldet haben, die ihre eigene Machtposition im System anerkennen und diese zur Veränderung nutzen wollen. Und doch scheint nicht so ganz klar, wo wir nun hinwollen, mit dem ganzen angestauten Frust, der unter dem Hashtag sichtbar wird.

Streik und Verhandlungen mit der Politik scheinen die offensichtliche Lösung, um hoffentlich das WissZeitVG zu kippen oder Wandel zu erzwingen. Das für 1. Juli angesetzte Panel der Gewerkschaft GEW, das dies diskutieren will, wurde nun durch Druck einiger auch diverser gestaltet, und bildet etwas besser ab, auf wie vielen Ebenen Exklusion in der deutschen Wissenschaft wirkt.

Aber dennoch, auch dies zeigt: Die Probleme des deutschen Wissenschaftssystems sind größer als #ichbinhanna. Gehen wir an die Reform falsch heran, lösen wir diese bestenfalls oberflächlich. Was es braucht, ist ein viel größeres Umdenken darüber, wie Universitäten und Wissenschaft in diesem Land funktionieren – sonst haben wir am Ende zwar wieder einen entfristeten Mittelbau, aber einen voller weißer, heterosexueller, abled cis-Männer und Frauen aus dem deutschen Bildungsbürgertum. Two steps forward, one step back.

[Title Image by Aron Visuals via Unsplash]

Sabrina Mittermeier

Dr. Sabrina Mittermeier ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Geschichte Großbritanniens und Nordamerikas an der Universität Kassel. Sie lehrt und forscht zur US-amerikanischen Geschichte im transnationalen Kontext, besonders zu den Wechselbeziehungen mit Großbritannien, Deutschland, China oder Japan.

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