Glorifizierung einer kalten Welt: Florian Völker im Interview über ‚Kälte-Pop‘
Sie sangen von Eisbären und Mensch-Maschinen, zelebrierten Emotionslosigkeit und Entfremdung in einer technologisierten Welt. Wir sprachen mit dem Historiker Florian Völker über den Aufstieg der ‚Kälte-Pop‘-Bands vor fast 50 Jahren in der BRD.
Ende der 1970er Jahre brach eine musikalische Eiszeit über die Bundesrepublik herein. Beherrschten zuvor heiße Liebesschwüre und schweißtreibende Performances die deutschsprachige Poplandschaft, so waren es plötzlich von ‚kalten‘ Motiven getriebene Bands, wie Kraftwerk und DAF, die die Menschen in ihren Bann zogen.
Mit dem Phänomen des sogenannten ‚Kälte-Pop‘ beschäftigt sich der Historiker Florian Völker in seinem kürzlich erschienenen gleichnamigen Buch. Völker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und das Thema Popgeschichte lässt ihn alles andere als kalt. Wir wollten von ihm wissen, was den ‚Kälte-Pop‘ in seiner Hochphase so einzigartig erfolgreich machte. Das Interview führte Alexandra Hinz von De Gruyter.
Alexandra Hinz: Wie sind Sie zur Popmusik als Forschungsgegenstand gekommen?
Florian Völker: Pop war schon immer meine Leidenschaft. Seit meiner frühsten Kindheit habe ich alles aufgesaugt, was mit der Geschichte von Popmusik zu tun hat, unabhängig davon, ob die jeweilige Band/Künstler:innen bzw. Musik selbst meinem persönlichen Geschmack entsprach. Während meines Masterstudiums der Zeitgeschichte habe ich dann das damals noch vergleichsweise junge Feld der Popgeschichte entdeckt und festgestellt, dass ich Hobby und Forschung miteinander verknüpfen kann.
AH: Was macht ‚kalte‘ Popmusik aus?
FV: Mit dem Begriff ‚Kälte-Pop‘ beschreibe ich eine Verhaltenslehre, eine (subjekt-)kulturelle Strategie und eine darauf aufbauende, popkulturelle Praxis und Ästhetik. Das Phänomen entstand am Ende der 1970er Jahre im Vor- und Umfeld der sogenannten Neuen Deutschen Welle und stellte das ‚Kalte‘ in den Mittelpunkt seiner Performances, Sounds und Songtexte. Dies beinhaltete neben Sounds, die gemeinhin als ‚kalt‘ wahrgenommen werden (z.B. klirrend-hohe Töne, monoton-repetitive Pattern) u.a. ein offensives Ja zu Industrie und Großstadt, Entfremdung und Gefühlslosigkeit, Künstlichkeit und Oberflächenästhetik, Disziplin und körperlicher Funktionalität, Gewalt und Härte, Zerfallszeichen und Todesmotiven, Schnee und Eis, Beton und Stahl sowie zu technischen Geräten wie Computern, Maschinen und Robotern.
Dieses Vorgehen fand Ausdruck in so stilistisch unterschiedlichen Songs wie „Eisbär“ (1980) von Grauzone, „Eiszeit“ (1981) von Ideal, „Die Mensch∙Maschine“ (1978) von Kraftwerk, „Zurück Zum Beton“ (1979) von S.Y.P.H., „Moderne Welt“ (1980) von Freiwillige Selbstkontrolle, „Der Mussolini“ (1981) von DAF sowie „Abstieg Und Zerfall“ (1981) von Einstürzende Neubauten.
AH: Welche gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren haben die Bewegung beeinflusst?
FV: Die Strategien der ‚Kälte-Pop‘-Künstler:innen stellen eine Auseinandersetzung bzw. Neupositionierung innerhalb der linken Gegenkultur dar, die auf dem Feld der Popkultur ausgetragen wurde. Die ‚Kälte‘-Musiker:innen, die selbst Teil der Gegenkultur waren, agierten nicht nur gegen den Kult der ‚Wärme‘, der die damalige Popmusik und linksalternative Gegenkultur beherrschte, sondern allgemein gegen die als antimodernistisch und reaktionär verworfenen Ideale, Aktionsformen und Subjektmodelle der ‚alten‘ Linken, zu der sie die sogenannten ‚68er‘, das linksalternative Milieu und die Anhänger:innen der Punk-Kultur gleichermaßen zählten.
„Die ‚Kälte‘-Musiker:innen … agierten nicht nur gegen den Kult der ‚Wärme‘ … sondern allgemein gegen die als antimodernistisch und reaktionär verworfenen Ideale, Aktionsformen und Subjektmodelle der ‚alten‘ Linken …“
Als Gegenentwurf entwickelten die ‚Kälte‘-Akteur:innen ein System von Motiven, Codes und Strategien, das all jene Zeichen und Prozesse der (Post-)Moderne affirmierte und ästhetisierte, die am Ende der 1970er Jahre in der bundesdeutschen Gesellschaft – und insbesondere im linksalternativen Milieu – als negative bis bedrohliche Aspekte einer vermeintlich kalten Welt interpretiert wurden. Vorbildfunktion hatten dabei die historischen Avantgarden der 1910er bis 1930er Jahre, der Futurismus, Dadaismus und insbesondere die Neue Sachlichkeit.
Generell ist das ‚Kälte‘-Konzept ein wiederkehrendes Phänomen innerhalb popkultureller und/oder politischer Gegenkulturen. Es bietet konträre Denk- und Subjektmodelle zu den gegenkulturell dominanten, als erdrückend und fehlgeleitet wahrgenommenen Idealen und Praktiken an.
AH: War der ‚Kälte-Einbruch‘ ein rein westdeutsches Phänomen?
FV: Ja. Natürlich finden wir viele musikalische und visuelle ‚Kälte‘-Motive auch in der angloamerikanischen New Wave und ihrem Umfeld: etwa in den Sounds von Gruppen wie The Human League, Throbbing Gristle und Cabaret Voltaire oder im Auftreten von Acts wie Heaven 17, Gary Numan, Laurie Anderson und Devo. Allerdings war die Intention für die ‚kalten‘ Inszenierungen und ‚Kälte‘-Motive dieser Künstler:innen nicht affirmativ. Ihnen ging es zumeist darum, das Dargestellte und vermeintlich Glorifizierte durch Mimese und Mimikry offenzulegen und zu kritisieren.
Britische New-Wave- und Post-Punk-Bands zeichneten sich durch einen politischen Aktivismus und Zusammenhalt innerhalb der linken Gegenkultur aus, der sie von den meisten NDW-Musiker:innen und insbesondere den ‚Kälte‘-Protagonist:innen unterschied. Dieselbe Einigkeit innerhalb der linken Gegenkultur führte neben weiteren Faktoren auch dazu, dass die alternative bzw. Underground-Musikszene in der DDR trotz der vielen Ähnlichkeiten zur bundesdeutschen New-Wave-Bewegung keine ‚Kälte‘-Strategien hervorbrachte.
AH: Inwiefern ist das Konzept des ‚Kälte-Pop‘ heute noch relevant? Gibt es moderne Musiker oder Bands, die sich darauf beziehen?
FV: Das ‚Kalte‘ blieb auch nach dem Ende der ‚Kälte-Welle‘ (1978–1982) ein weit verbreitetes Element der internationalen Pop-Musik, insbesondere in den verschiedenen Strömungen der Schwarzen Szene. Allerdings werden ‚kalte‘ Motive heute zumeist unabhängig von dem ursprünglich dahinterstehenden Konzept und Anspruch genutzt. Das Ergebnis ist häufig eine Kombination ‚kalter‘ wie ‚warmer‘ bzw. ‚hitziger‘ Motive, wie wir es etwa bei Rammstein sehen: Die Berliner Band verknüpft Pyro-Show und Schweiß mit der im ‚Kälte-Pop‘ entwickelten, international erfolgreichen Figur des ‚kalten‘, d.h. emotionslosen und disziplinierten Deutschen.
„‚Kalte‘ Motive werden heute zumeist unabhängig von dem ursprünglich dahinterstehenden Konzept und Anspruch genutzt.“
Daneben hielten mit dem ‚Kälte-Pop‘ nicht nur neue Formen gegenkultureller Politik, die das Ästhetische über die politische Praxis stellten, Einzug in die bundesdeutsche (Pop‑)Kultur, sondern auch Distanz und eine selbstreferentielle Pop-Rezeption, die mit Authentizitätsnarrativen bricht und damit nachfolgende Phänomene wie die sogenannte Hamburger Schule und bestimmte Formen des Deutschrap möglich machte. Darüber hinaus hatten die ‚Kälte‘-Musiker:innen bedeutenden Anteil daran, dass fragmentierte Identitätsmodelle und Entfremdungserfahrungen nicht ausschließlich mit Kritik und Klage behandelt wurden, sondern als quasi ‚natürliche‘ Merkmale der postmodernen Lebenswirklichkeit aufgefasst und künstlerisch thematisiert werden.
AH: Haben Sie persönliche Lieblingskünstler oder -songs aus der Ära?
FV: Ja, viele sogar. Neben solch international bekannteren Gruppen wie Kraftwerk, DAF, Malaria! und Einstürzende Neubauten (sowohl in ihrer frühen Krach- als auch späteren Feuilleton-Phase) höre ich auch immer wieder gerne Bands und Künstler:innen wie The Wirtschaftswunder, Palais Schaumburg, Andi Arroganti und Gorilla Aktiv (mit dem heute bei 2Raumwohnung aktiven Tommi Eckart).
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[Title image by Simon Malz via Flickr/CC BY-SA 2.0]