„Familiennamen sind ein 600 Jahre altes Kulturgut“: Damaris Nübling und Konrad Kunze im Interview

Ob Hinz oder Kunz – hinter fast jedem Familiennamen steckt eine spannende Geschichte, wenn man nur gut genug hinschaut. Doch seit wann verwenden wir überhaupt Familiennamen und warum? Und was können wir heute aus ihnen über die Vergangenheit ableiten? Über diese Fragen und mehr haben wir mit den Herausgebern des „Kleinen Deutschen Familiennamenatlas“ gesprochen.

Familiennamen sind Zeitkapseln. Sie enthalten Informationen über das Leben unserer Vorfahren aus einer Zeit, in der es weder fließend Wasser noch Strom gab, in der Hungersnöte und Seuchen grassierten und Städte rasant wuchsen.  

Heutzutage denken die meisten Menschen wohl eher selten darüber nach, warum sie heißen wie sie heißen, aber für Damaris Nübling und Konrad Kunze sind Familiennamen faszinierende Fenster in die Vergangenheit. Über einen Zeitraum von fast 20 Jahren haben sie die Namenlandschaft Deutschlands untersucht und ihre Ergebnisse im 7-bändigen Werk „Deutscher Familiennamenatlas“ zusammengestellt. 

Prof. Dr. Nübling ist seit 2000 Professorin am Lehrstuhl für Historische Sprachwissenschaft des Deutschen an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Prof. Dr. Kunze lehrte bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2004 am Institut für germanistische Linguistik der Universität Freiburg.  

Zu Beginn des Jahres veröffentlichten die beiden bei De Gruyter einen weiteren Band, in dem sie die wichtigsten Erkenntnisse ihres Projekts in allgemeinverständlicher Weise zusammenfassten und mit einer Vielzahl von Namenkarten illustrierten. Anlässlich des Erscheinens des „Kleinen Deutschen Familiennamenatlas“ luden wir Damaris Nübling und Konrad Kunze zum Interview ein. Svetoslava Antonova Baumann von De Gruyter sprach mit ihnen über die spannenden Einblicke, die uns die Verbreitungsräume der Familiennamen bis heute bieten.     

Svetoslava Antonova Baumann: Seit wann gibt es Familiennamen in Deutschland? 

Innerhalb von etwa 300 Jahren, von 1150 bis ungefähr 1450, entwickelten sich fast alle Familiennamen.

Konrad Kunze: Die Familiennamen sind in Deutschland ungefähr vor 800 Jahren entstanden. Es gab sie vorher schon in Venedig – schon im 9. Jahrhundert. Das weitete sich über Italien und Frankreich allmählich nach Deutschland aus. Im Jahre 1150 waren Familiennamen in Südwestdeutschland dann schon sehr häufig, es dauerte aber noch lange, bis sie sich allgemein durchgesetzt haben. Ungefähr im Jahr 1400 hatten fast alle Leute – abgesehen von manchen Knechten auf Bauernhöfen und so weiter – schon einen Familiennamen. Innerhalb von etwa 300 Jahren, von 1150 bis ungefähr 1450, entwickelten sich fast alle Familiennamen. Diese sind bis heute da und es kommen keine neuen dazu, es sei denn durch Zuwanderung oder durch Doppelnamen. Aber ansonsten ist das ein 600 Jahre altes Kulturgut. 

Damaris Nübling: Zum Thema „Knechte“ lässt sich ergänzen: Es ist ja bis heute so, dass sich viele Angestellte im niedrigeren Dienstleistungsbereich eher mit ihrem Vornamen vorstellen oder dies von ihnen erwartet wird – sei es der Friseur oder die Krankenschwester. Das nimmt ab, aber den Reflex gibt es bis heute. 

SAB: Kann man die Entstehung der Familiennamen auf eine bestimmte Entwicklung zurückführen, die es damals, zwischen 1150 und den folgenden 300 Jahren, gegeben hat?  

KK: Die Städte wuchsen damals, sie wurden immer größer. Wenn jeder zehnte Mann Johannes hieß, zum Beispiel in einer Stadt wie Köln mit damals etwa 30.000 Einwohnern, musste man die ja irgendwie auseinanderhalten. Dafür gab es fünf Möglichkeiten, auf die alle unsere Familiennamen zurückgehen. Entweder unterschied man die Leute nach ihrem Vater, also zum Beispiel Hans, der Sohn des Friedrich. Manchmal war es auch die Mutter, aber meistens der Vater. Oder man unterschied sie nach ihrem Wohnort – Hans am Bach – oder nach ihrer Herkunft: Hans der Münchner. Oder man unterschied sie nach ihrem Beruf: Hans der Schuhmacher. Das Kurioseste ist natürlich die Unterscheidung anhand von charakterlichen, biografischen oder körperlichen Merkmalen: Hans der Lange oder Hans der Dumme.

DN: Damals wurden auch immer mehr Urkunden und Kaufverträge angefertigt und Geburtsregister erstellt. Die Schriftlichkeit erforderte einen höheren Bedarf an eindeutiger Identifizierung von Personen. 

SAB: Wie ist der Deutsche Familiennamenatlas entstanden? 

KK: Wir haben 2005 eine Datenbank von der Deutschen Telekom bekommen mit den Namen von allen Telefonanschlüssen. Damals wussten wir noch gar nicht genau, was wir damit anfangen wollen. Aber dann haben wir drei Forschungsrichtungen eingeschlagen.  

Die erste ist Familiennamen als Fenster zur Sprachgeschichte. Ein Beispiel: Wenn Sie eine Karte mit Namen erstellen, die mit „-lein“ aufhören, z.B. Eberlein, sehen Sie sofort, die wohnen fast alle in und um Nürnberg. Daraus kann man sprachwissenschaftliche Folgerungen ziehen. Die Silbe „-lein“ muss aus Nürnberg als zweite Verkleinerungsform neben „-chen“ in unsere hochdeutsche Sprache gekommen sein. Heute fällt es uns deshalb schwer zu beantworten: Was ist der Unterschied zwischen einem Hündchen und einem Hündlein?

Die zweite ist das Fenster zur Siedlungsgeschichte. Wenn jemand Bremer heißt, wissen wir genau, dass die Vorfahren aus Bremen ausgewandert sein müssen. Daran kann man die Wanderungsbewegungen nachvollziehen. Sehr schön ist auch das Beispiel des Namens Schwab. Der Name verteilt sich vor allem um die Region herum, die wir heute Oberschwaben nennen. Das muss also das ursprüngliche Schwaben gewesen sein, von wo die Leute nach Norden und nach Westen ausgewandert sind. 

Die dritte Forschungsrichtung gilt Namen als Fenster zur Kulturgeschichte. Wo viele Leute Gerstenmeier heißen, wissen wir, in der Region ist Gerste angebaut worden. Oder auch, wenn jemand Donath heißt, weiß man, der Ur-Ahn muss den Namen Donathus getragen haben. Das ist ein Heiliger, der besonders in Sachsen verehrt worden ist. Und siehe da, den Familiennamen Donath gibt es nur in Sachsen. So kommt man also in alle Bereiche der Kulturgeschichte, von der Heiligenverehrung bis zum Getreideanbau. 

DN: Wir haben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein insgesamt zehnjähriges Projekt bewilligt bekommen. Statt der geplanten drei oder vier Bände wurden es sieben Bände, weil im Laufe der Jahre eben auch die Fragen zugenommen haben. Diese Bände sind sehr spezialisiert und an eine wissenschaftliche Community gerichtet, sodass wir immer wieder von Journalisten angefragt wurden: Was macht ihr denn da eigentlich? Dann hat uns De Gruyter vorgeschlagen, einen achten Band, eine populärwissenschaftliche Ausgabe, zu erstellen, in der die wichtigsten Ergebnisse in leicht verständlicher Weise und mit über 900 Namenverbreitungskarten illustriert und präsentiert werden.

Darüber hinaus haben wir noch ein Kapitel über die Entstehung der Familiennamen geschrieben, auch über andere Namenkulturen sowie über die Verwendung von Familiennamen im Alltag. Wir haben auch die Profile einzelner Namenlandschaften kartiert vom Südwesten bis zum Nordosten. So entstand eine Art Familiennamen-Enzyklopädie.

SAB: Hat Sie bei der Arbeit etwas besonders überrascht?

KK: Das Überraschendste für uns war, dass es unglaublich scharfe, wie mit dem Messer geschnittene Grenzen gibt. Zum Beispiel, Personen, die Kunze heißen, also mit einem -e, sitzen vorrangig in Thüringen und Sachsen, früher auch in Schlesien. Im Südwesten heißen sie dagegen Kunz ohne -e.  

Noch heute finden wir in der Hauptsache die Verhältnisse wieder, die im Mittelalter bestanden haben.

DN: Und dass es noch heute solche haarscharfen Grenzen gibt, deutet darauf hin, dass die Menschen nicht so mobil gewesen sein können. Noch heute finden wir in der Hauptsache die Verhältnisse wieder, die im Mittelalter bestanden haben. Natürlich gab es kleinräumige Migrationszüge, zum Beispiel in die nächstgrößere Stadt, aber richtig weit weg oder durch ganz Deutschland, das kam selten vor. Wir haben 85 Prozent Kontinuität und 15 Prozent Wanderung errechnet.  

KK: Noch ein Beispiel anhand des Namens Maier/Mayer/Meier/Meyer (das war der Großbauer): Der Name schreibt sich im Süden mit „ai“ oder mit „ay“. In Norddeutschland schreibt er sich mit „ei“ und „ey“. Wenn man eine Karte erstellt, kann man sehen, dass 5% Maiers vom Süden in den Norden gewandert sind und 3% Meiers vom Norden in den Süden. 

SAB: Ich finde es interessant und überraschend, dass es diese scharfen Grenzen bei den Familiennamen gibt. Wenn es um sprachliche Phänomene geht, sprechen wir ja oft von eher unscharfen Grenzen, z. B. bei Dialekten oder auch bei der Ausdifferenzierung von einzelnen Sprachen.   

KK: Das ist auch eine statistische Frage. Wenn wir uns Namen anschauen, die verkleinert sind mit dem typisch Südwestdeutschen „-le“ hintendran, verbergen sich dahinter ja tausende verschiedene Namen – Eberle, Schätzle, Wölfle, Hensle und so weiter. Durch die Menge der Namen werden die Grenzen so scharf. Da kann ruhig mal ein Eberle nach Berlin gezogen sein, das spielt keine Rolle. Die restlichen 10.000 sitzen noch dort, wo sie ursprünglich hingehören.  

DN: Genau, das ist wichtig. Wir haben keine Einzelnamen kartiert, sondern Phänomene, wie zum Beispiel die Verkleinerungsendungen. Dazu haben wir sehr viele Namen des gleichen Typs zusammengefasst.  

SAB: Gibt es denn auch aktuelle Trends in punkto Familiennamen in Deutschland zu beobachten? 

DN: Wie Herr Kunze schon gesagt hat, sind die Familiennamen fest und nur durch Zuwanderung kommt es noch zu neuen Namen. So viel tut sich im Gesamtbild nicht. Was sich im Namensrecht getan hat ist, dass bei einer Heirat beide Partner ihren Namen behalten können und dass auch der Frauenname zum Familiennamen werden kann. Früher wurden Namen ja automatisch „über das Y-Chromosom“ vererbt, da hat einfach der Mann den Namen vorgegeben. Heute tut das interessanterweise immer noch die große Mehrheit der Bevölkerung, obwohl das Namensrecht liberalisiert ist. Die Auswahlmöglichkeiten, die seit 1994 bestehen, können dazu führen, dass als unangenehm empfundene oder nicht so hübsche Namen nun eher „abgewählt“ werden.

Was wir vor allem beobachten, ist das Aussterben von Namen.

KK: Was wir vor allem beobachten, ist das Aussterben von Namen. Etwas über die Hälfte an Familiennamen kommen nur in einem einzigen Telefonanschluss vor. Wir arbeiten ja mit Telefonanschlüssen von 2005 und da kann man sehen, wie schnell das Aussterben geht. Andererseits gibt es auch ein Anwachsen von Bindestrich-Doppelnamen. In unserem Atlas sieht man eine haarscharfe Grenze, und zwar zur ehemaligen DDR. Dort waren Bindestrich-Doppelnamen nicht erlaubt. In der Bundesrepublik gibt es sie dagegen schon lange.  

SAB: Haben Sie außer Ost-West-Unterschieden auch Unterschiede zwischen Großstädten und dem Land gefunden? 

DN: In den Großstädten haben wir die größte Diversität an Namen, weil dahin sehr viele Leute ziehen. Insofern sind sie nicht unbedingt repräsentativ für ihre Landschaft, sondern es ist das Land – da wo die Leute sesshaft geblieben sind. Da haben wir sehr viele Unterschiede gefunden und erstellen auch ständig neue Karten. Manche Unterschiede sind ganz entzückend: Wenn man zum Beispiel die Familiennamen Kuckuck und Gauch untersucht, so findet sich das veraltete Wort für den Kuckuck, Gauch, im Süden und Kuckuck nur im Norden. 

SAB: Haben Sie sich auch andere Namenssysteme außerhalb des deutschsprachigen Raums angeschaut? 

DN: Ja, wir haben die Namen, die uns andere Kulturen „spendiert“ haben, auch behandelt – unter anderem slawische, baltische, französische, türkische, griechische, spanische und italienische Namen, also jene der größten Zuwanderergruppen. Wir haben ihre Entstehung und jeweilige typische Namenskultur beleuchtet. In der Türkei, zum Beispiel, sind Familiennamen sehr spät, erst im 20. Jahrhundert, entstanden. Dann haben wir auch geschaut, in welchem Gewand diese Namen in Deutschland erscheinen. Sie können natürlich eins zu eins übernommen worden sein, aber oft wurden im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte lautliche und morphologische Angleichungen vorgenommen. So ist z.B. aus französisch Leblanc in der Pfalz Leppla geworden.

“Oft wurden im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte lautliche und morphologische Angleichungen vorgenommen.

KK: Wir haben in unserem Atlas unter anderem auch die zehn häufigsten italienischen Namen unter die Lupe genommen. So finden sich zum Beispiel in Südbaden und Südwürttemberg ganz viele italienische Namen, aber nicht so viele türkische. Spanische Namen dagegen häufen die sich vor allem im Raum Frankfurt am Main. Hier zeichnen sich deutlich verschiedene Migrationswellen ab.

DN: Das ist natürlich besonders stark in Westdeutschland der Fall durch die sogenannte Gastarbeitergeneration. Man sieht, dass sie damals in die Ballungszentren gegangen sind und dort gearbeitet haben, zum Beispiel sticht VW in Wolfsburg auf den Namenkarten heraus.

SAB: Gibt es eine Tendenz, dass je länger Namen aus anderen Kulturen in Deutschland ansässig sind, sie sich immer mehr angleichen, dass zum Beispiel Diakritika verschwinden? 

DN: Man kann mit Sicherheit sagen, dass immer mehr eingedeutscht und angepasst wird. Hinzu kommt noch, dass Personen oft durch ihre Namen stigmatisiert waren, zum Beispiel die Polen im Ruhrgebiet. Die haben dann aktiv versucht, ihre Namen ans Deutsche anzugleichen, und je stärker sie verändert wurden, desto teurer war dieser Namenwechsel. Deswegen gibt es oft Mischformen oder Kompromissnamen, die nur ein bisschen adaptiert sind ans Deutsche. Zum Beispiel heißt unsere ehemalige Kanzlerin ja mit Geburtsnamen Kasner und das ist eine eingedeutschte Form des polnischen Namens Kazmierczak.  

SAB: Vielen Dank für das spannende Gespräch!  

[Title image by Jedesto via Wikimedia Commons/CC BY-SA 4.0 license]

Damaris Nübling

Prof. Dr. Damaris Nübling ist Professorin am Lehrstuhl für Historische Sprachwissenschaft des Deutschen an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Konrad Kunze

Prof. Dr. Konrad Kunze ist emeritierter Professor an der Universität Freiburg. Dort lehrte er bis 2004 am Institut für germanistische Linguistik.

Svetoslava Antonova Baumann

Dr. Svetoslava Antonova Baumann ist Acquisitions Editor im Bereich Germanistische Linguistik bei De Gruyter.

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