Die Leipziger Buchmesse in der DDR: Ein Interview mit Patricia F. Blume
In einer Zeit der Abschottung und politischen Spannungen, waren es Bücher, die Brücken zwischen Ost und West schlugen – die Leipziger Buchmesse als Knotenpunkt des deutsch-deutschen Kulturaustauschs spielte dabei eine ganz besondere Rolle. Wir sprachen mit der Medien- und Buchwissenschaftlerin Dr. Patricia F. Blume über die Messe als „Fenster zur Welt“, ihre ideologische Funktion, skurrile Klau- und Schmuggelgeschichten und noch vieles mehr.
Wie in jedem Frühjahr treffen sich bald Fachbesucher*innen und Literaturbegeisterte in den Hallen des Leipziger Messegeländes, um in den Neuerscheinungen großer und kleiner Verlage zu schmökern, sich auszutauschen und Geschäfte zu machen. Und das tun sie nicht erst seit kurzem: Erstmals im 17. Jahrhundert veranstaltet, kann die Leipziger Buchmesse auf eine fast 400-jährige, ereignisreiche Geschichte zurückblicken.
Im Rahmen ihrer Promotion hat sich die Medien- und Buchwissenschaftlerin Dr. Patricia F. Blume mit einem Teil dieser Geschichte befasst, der sie schon lange besonders fasziniert: die Jahre 1946 bis 1990, von der Neugründung der Messe nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur deutschen Einheit. Die Ergebnisse ihrer Forschungen sind nun als Open-Access-Buch unter dem Titel „Die Geschichte der Leipziger Buchmesse in der DDR“ bei De Gruyter Saur erschienen.
Veranstaltungshinweis: Patricia F. Blume stellt ihr neues Buch am 21.3. im Bibliotop und am 22.3. im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig vor.
Welchen Stellenwert hatte die Leipziger Buchmesse im planwirtschaftlichen Literaturbetrieb? Was für eine Rolle spielte Zensur? Und wie wirkte sich der deutsch-deutsche Kulturaustausch auf die Beziehungen zwischen Ost und West aus? All das und mehr wollten wir von Dr. Blume wissen, die derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universitätsbibliothek Leipzig tätig ist. Dazu lud Alexandra Hinz von De Gruyter sie zum Interview ein.
Alexandra Hinz: Was hat Sie dazu inspiriert, sich mit der Geschichte der Leipziger Buchmesse in der DDR auseinanderzusetzen?
Patricia Blume: Gereizt hat mich an der DDR-Buchmesse, ein vollkommen brachliegendes Feld zu bearbeiten, das Literatur, Wirtschaft und Zeitgeschichte verbindet. Dabei spielte die gegenwärtige Bedeutung und Bekanntheit der Buchmesse eine große Rolle, von der aus eine Rückschau auf „Geschichte, die noch qualmt“ besonders vielversprechend ist. Hinzu kommt die großartige Quellenlage in Leipzig, wo viele wichtige DDR-Verlage und -Institutionen beheimatet waren wie der Reclam Verlag oder der Börsenverein der Deutschen Buchhändler. Außerdem hatte ich schon lange ein Faible für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Buchdiebstahl – ein Thema, das eng mit Buchmessen generell verknüpft ist.
AH: Die Leipziger Buchmesse hat eine fast 400-jährige Tradition. Wie veränderte sich die Ausrichtung der Messe nach ihrer Neugründung 1945?
PB: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zum ersten Mal die Situation, dass die Messe nicht aus den Bedürfnissen der Branche heraus stattfand. Stattdessen wurde sie von der Sowjetischen Besatzungsmacht angeordnet. Damit verbunden war eine bestimmte politische Ausrichtung. Dabei zeigten sich vor allem zwei Faktoren, die es vorher so nicht gegeben hatte: Die Bücher fanden ihren Weg in die Mustermesse, eine Leipziger Erfindung, bei der die Handeltreibenden auf der Basis von Warenmustern bestellten. Bis dahin hatte der Buchhandel an einem anderen Termin im Jahr eine separate Messe abgehalten, die dem Zweck der Abrechnung und brancheninternen Begegnung diente.
Nun, in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. in der DDR, war die Buchbranche eine von vielen Branchen, die anlässlich der Leipziger Messe gleichzeitig ausstellten. Außerdem war es ein absolutes Novum, dass Personen, die nicht aus der Branche kamen, die Messe besuchten. Das allgemeine Publikum, das sich aus Endkundensicht für die Bücher interessierte, sollte sich aber zu einer enorm wichtigen Komponente der DDR-Buchmesse entwickeln.
AH: Auf der Leipziger Buchmesse waren auch westliche Verlage vertreten. Inwiefern beeinflusste dies die Beziehung zwischen Ost und West?
„Die Buchhandelsfirmen, die nach Leipzig kamen, waren Ersatzdiplomaten.“
PB: Die Buchmesse in Leipzig war eine einzigartige Schnittstelle. Sie bot die Möglichkeit zum Kontakt, zum Austausch vor allem im kulturellen Feld, auch als die politische Situation höchst angespannt war wie 1961 nach dem Mauerbau und in den Jahren danach, einer der Hochphasen des Kalten Krieges. Die Buchhandelsfirmen, die nach Leipzig kamen, waren Ersatzdiplomaten. Da, wo es auf staatlicher Ebene keine Kontakte gab, ebneten sie den Weg dafür, dass sich beide Seiten aufeinander zu bewegten.
Das waren im Messealltag Vertragsabschlüsse zwischen den Handelspartnern, aber auch gegenseitige Buchgeschenke an Kolleg*innen aus den Verlagen „hüben und drüben“. Solche kleinen Gesten auf Arbeitsebene mündeten auf größerer Ebene in Kommissionen beider Börsenvereine, die schließlich in den späten 1980er Jahren Vereinbarungen über Kooperationen und Austausch abschlossen, wie die gegenseitigen Buchausstellungen. Nicht vergessen darf man schließlich die Wirkung der Bücher, die mit den Verlagen ins Land kamen.
AH: Welche Bedeutung hatte die Leipziger Buchmesse für die Menschen in der DDR?
PB: Für die Buchinteressierten in der DDR war die Messe der absolute Höhepunkt im Jahr. Das hatte damit zu tun, dass dort DDR-Bücher ausgestellt wurden, die man nicht einfach in der Buchhandlung kaufen konnte, weil die Auflage so klein bemessen war. Vor allem aber lag das an der Literatur, die die Verlage aus der Bundesrepublik ausstellten. Häuser wie Luchterhand, Suhrkamp, Hanser, Rowohlt, S. Fischer oder Bertelsmann zeigten einen beeindruckenden Querschnitt des westdeutschen Buchangebots. An ihren Ständen eröffneten sich ganz neue Themenwelten, von Yoga über Rockmusik bis hin zu Fachliteratur über Augenheilkunde. Hier konnte man auch Bücher von Autor*innen in die Hand nehmen, die in der DDR nicht verlegt wurden, die tabu waren.
“Der Lesehunger und das Bedürfnis nach Information waren ungeheuer groß bei diesem Publikum, das sich ansonsten in einem relativ abgeschotteten Literaturmarkt bewegte.”
Der Lesehunger und das Bedürfnis nach Information waren ungeheuer groß bei diesem Publikum, das sich ansonsten in einem relativ abgeschotteten Literaturmarkt bewegte. Viele Leser*innen beschreiben die Messe als ein Fenster zur Welt, eine Veranstaltung, die kurzzeitig ein Gefühl von Freiheit vermittelte.
AH: Welche Bedeutung hatte sie für die Wirtschaft und die politische Führung der DDR?
PB: Die Staatsführung maß der Buchmesse insbesondere eine wichtige ideologische Funktion bei, die sie neben oder sogar über die wirtschaftliche Komponente stellte. Die Messe sollte den Sozialismus von seiner besten Seite präsentieren, und da kamen die Leistungsfähigkeit des Verlagswesens und die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften ins Spiel. Beispielweise hatte die Buchmesse einen eigenen Festakt zur Eröffnung, auf dem sich die wissenschaftliche und kulturelle Elite feierte. Gleichzeitig spielten hier außenpolitische Ziele hinein. Bei diesem Festakt saßen Repräsentant*innen aus Staaten, bei denen die DDR um diplomatische Beziehungen buhlte. Ihre Präsenz wurde als Zeichen der staatlichen Anerkennung gedeutet.
Diese Inszenierung setzte sich fort auf der eigens eingerichteten Pressekonferenz. Allerdings stand hier die Konfrontation mit der Bundesrepublik im Mittelpunkt. Die Buchfunktionäre, die hier den Ton angaben, gaben den Diskursen der West-Feuilletons über DDR-Literatur massiv Contra. Interessanterweise war diese Pressekonferenz trotz ihrer Propagandalastigkeit für die Medienschaffenden aus dem Westen ein wichtiges Stimmungsbarometer. Sie berichteten regelmäßig über die Buchmesse, über die Neuerscheinungen und Querelen mit Autor*innen und sorgten dafür, dass der Literaturbetrieb der DDR weiterhin auf der Agenda der Berichterstattung blieb.
AH: Wie sind Autor*innen und Verleger*innen mit Zensur und Überwachung durch die Staatssicherheit umgegangen?
PB: Bei aller Weltoffenheit, die die Leipziger Messe ihren Gästen vermitteln wollte, verzichtete die Staatsführung nicht auf bestimmte Schutzmaßnahmen. Die für DDR-Verhältnisse ungewohnte Offenheit musste irgendwie unter Kontrolle gebracht werden. Eine Maßnahme bestand darin, die Bücher aller auswärtigen Aussteller zu zensieren, bevor sie in die Regale im Messehaus gelangten. Dafür wurde für die vielen, vielen Titel ein mehrstufiges Kontrollverfahren aufgebaut mit einer Kommission, in der die erfahrensten Zensor*innen der DDR saßen.
“Die Feindvermutung des Ministeriums für Staatssicherheit war allumfassend.”
Andere Kontrollmechanismen fuhr man für die zwischenmenschlichen Kontakte zwischen Ost und West auf. Die Feindvermutung des Ministeriums für Staatssicherheit war allumfassend. Verlagen aus der Bundesrepublik, die auf der Messe ausstellten, unterstellte es von vornherein die Absicht, politisch-ideologisch zersetzend wirken und die DDR kulturell unterwandern zu wollen. Dementsprechend ausufernde Maßnahmen ergriff die Staatssicherheit zur Überwachung der Personen aus der DDR, aber auch von Gästen. Ihr Personal spionierte im Umfeld von Autor*innen genauso wie von Mitarbeitenden aus Verlagen aus Ost und West und von Journalist*innen aus der Bundesrepublik.
AH: Sind Sie bei Ihren Recherchen auf besonders skurrile/überraschende Fakten oder Anekdoten gestoßen?
PB: Die Buchmesse in der DDR, aber auch die Leipziger Messe insgesamt, das waren Ereignisse, die immer von überraschenden, skurrilen, aber auch tieftraurigen Geschichten begleitet wurden. Das hatte mit der deutsch-deutschen Teilung zu tun und damit, dass zur Messe besondere Reiseerleichterungen galten. Dadurch wurden Begegnungen zwischen den Menschen aus Ost und West möglich. Dadurch entstand Nähe, aber auch Reibung. Beispielsweise wirken viele der Klau- und Schmuggelgeschichten aus heutiger Sicht skurril. Es gab Personen, die jeden Tag an einen Messestand kamen, um ein komplettes Buch abzuschreiben, es gab speziell genähte Messemäntel mit Stauraum für Bücher, aber es gab auch Stasi-Mitarbeiter, die Westliteratur stahlen. Ähnlich abstrus wirken die Praktiken, die sich aus der Mangelwirtschaft in der DDR ergaben, wie etwa dass auf einer Messe Blindbände und selbstgebastelte Dummys in den Regalen standen.
“Die Buchmesse in der DDR, […], das waren Ereignisse, die immer von überraschenden, skurrilen, aber auch tieftraurigen Geschichten begleitet wurden.”
Überraschend war – buchwirtschaftlich gesehen – besonders die Bedeutung der sogenannten Interzonenhandelsfirmen. Das waren Buchhandlungen, die sich in der Bundesrepublik auf die Einfuhr von Literatur aus der DDR spezialisiert hatten und die ein großes Interesse am Handel mit dem deutschen Nachbarn hatten. Sie waren ein wichtiges Bindeglied für den Ost-West-Buchhandel.
AH: Ist das Erbe der DDR heute noch in irgendeiner Form auf der Leipziger Buchmesse zu spüren?
PB: Auf den ersten Blick würde man eine solche Frage nach einem Besuch der diesjährigen Messe wahrscheinlich klar verneinen. Aber bei genauem Hinsehen gibt es Kontinuitäten und Traditionen. Nach der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 1990 bewegte sich die Buchmesse auf gleichem Terrain, aber plötzlich unter komplett anderen Rahmenbedingungen. Bei der Muttergesellschaft musste ein klarer inhaltlich-strategischer Cut stattfinden. Trotzdem kann ein jahrzehntelang eingeübter Habitus nicht einfach über Bord geworfen werden. Außerdem knüpfte das neue Konzept bewusst an Stärken an, die die Messe in der DDR entwickelt hatte. So kommt der stetige, interessierte Blick auf Osteuropa, seine Literatur und Debatten nicht von ungefähr. Der Nährboden des Erfolgs vom Literaturfestival „Leipzig liest“, das seit 1992 parallel zur Buchmesse stattfindet, würde ich ebenso klar in der DDR verorten.
AH: Sie selbst sind in diesem Jahr unter anderem mit einer Buchpräsentation im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig vertreten. Werden Sie während der Messewoche weitere Veranstaltungen besuchen? Falls ja, auf welche freuen Sie sich besonders?
PB: Ich freue mich wie immer auf das Flair überhaupt, auf die Fülle, aus der Leser*innen wählen können, auf die kleinen und großen Entdeckungen an den Ständen auf der Messe, auf die ungewöhnlichen Orte, an denen Literaturvermittlung stattfindet. Nach den Erfahrungen der covidbedingten Absagen wissen das alle umso mehr zu schätzen. Mit meinem historischen Blick auf die Buchmesse ist für mich der aktuelle Wechsel an der Führungsspitze der Buchmesse besonders interessant.
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[Titelbild: Im Messehaus am Markt am Stand des Kinderbuchverlags zur Herbstmesse 1963. V.l.n.r.: Walter Ulbricht, Johannes Hörnig, Leiter der Abteilung Wissenschaften des ZK der SED, Lotte Ulbricht, Curt Fabian, Generaldirektor von Buch-Export, und Verlagsleiter Günther Schmidt. Foto: Siegfried Müller. Quelle: HA/BV 94, BB/BA 26, 25]