Olivia Mitscherlich-Schönherr über „Das Gelingen der künstlichen Natürlichkeit“
Die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr beschäftigt sich mit Grenzsituationen des Lebens. Im neusten De Gruyter Book Talk spricht sie über den Einfluss disruptiver Biotechnologien auf unser Selbstverständnis als Mensch.
Dr. Olivia Mitscherlich-Schönherr ist Dozentin an der Hochschule für Philosophie München. Dort beschäftigt sie sich in Forschung und Lehre mit Grenzsituationen des menschlichen Lebens, insbesondere dem Sterben, der Geburt und dem Verhältnis zur Technik. Darüber hinaus ist sie Mitherausgeberin der Buchreihe „Grenzgänge“.
Nach „Gelingende Geburt“ und „Gelingendes Sterben“ widmet sich der kürzlich im Open Access-Modell erschienene dritte Band der Reihe „Das Gelingen der künstlichen Natürlichkeit“ nun dem Mensch-Sein im Zusammenspiel mit disruptiven Biotechnologien.
Im Interview mit Serena Pirrotta, Editorial Director Classical Studies & Philosophy bei De Gruyter, erläutert Olivia Mitscherlich-Schönherr das Konzept der künstlichen Natürlichkeit. Sie erzählt vom Einfluss disruptiver Biotechnologien, wie zum Beispiel der tiefen Hirnstimulation, auf unser Selbstverständnis als Mensch, von den politischen Dimensionen, den transhumanistischen Visionen, sowie der Rolle der Philosophie beim Gelingen der künstlichen Natürlichkeit und vielem mehr.
Das Gespräch ist als Podcast verfügbar. Als Kostprobe können Sie weiter unten einen Auszug in schriftlicher Form finden.
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Sie finden das Gespräch auch bei Spotify und Apple Podcasts.
Auszug aus dem Interview:
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Serena Pirrotta: Mittels des Konzepts der „künstlichen Natürlichkeit“ distanzieren sich die Beiträger Ihres Bandes vom Dualismus zwischen Naturalismus und Konstruktivismus. Können Sie auf das Konzept näher eingehen? Welche neuen Perspektiven auf das Mensch-Sein eröffnen sich dadurch?
Olivia Mitscherlich-Schönherr: Die Idee, vom Konzept der künstlichen Natürlichkeit auszugehen, schuldet sich einer Überzeugung von den Grenzen unserer Erkenntnis. Dahinter steht die Vorstellung, dass wir kein Wissen von der menschlichen Substanz haben, sodass der Band die Frage nach dem Mensch-Sein, dem menschlichen Wesen, der menschlichen Substanz bewusst offenhält. Er stellt sich bewusst dem Anspruch, zu sagen: wir gehen davon aus: Mensch-Sein ist unergründlich.
Vor diesem Hintergrund wendet sich der Band konkreten Formen des Mensch-Seins zu, die wir hier und jetzt ausbilden. Und zwar Formen des Mensch-Seins in der Verschränkung von all seinen Aspekten – von körper-leiblichen Aspekten, unmittelbarem emotionalen Erleben, soziokulturellen Bildern, aber eben auch neuen Technologien. Der Band macht es sich zur Aufgabe, das Mensch-Sein, das wir hier und jetzt miteinander ausbilden, überhaupt zunächst einmal zu reflektieren und dann auch kritisch zu thematisieren.
Serena Pirrotta: Was verstehen Sie unter disruptiven Biotechnologien?
Olivia Mitscherlich-Schönherr: Der Begriff der disruptiven Technologien stammt aus den Wirtschaftswissenschaften und damit sind zunächst einmal bahnbrechende Technologien gemeint. Interessant an diesem Begriff ist, dass er bewusst nicht nur die Technik als solche anschaut, sondern immer in der Verankerung in soziokulturellen Praktiken. Ob eine Technologie bahnbrechend innovativ ist oder nicht – entscheidet sich nicht daran, ob technisch etwas ganz Neues ausprobiert wird, sondern vielmehr daran, welche neuen Formen des Handelns und von Praktiken damit erschlossen werden können.
Der Begriff der disruptiven Biotechnologien bezieht sich auf Technologien, mit denen auf neuartige Weise in das körper-leibliche und personale Leben von Menschen eingegriffen wird und Grenzen des Mensch-Seins verschoben werden, die für uns bisher selbstverständlich waren.
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[Titelbild von Maksim Tkachenko/iStock/Getty Images Plus