Wilfried Hinsch und Susanne Brandtstädter über „Gefährliche Forschung“
Welchen Einfluss haben wissenschaftliche Innovationen auf unseren Alltag? Was macht neue Erkenntnisse potenziell „gefährlich“? Und welche Verantwortung tragen Forschende gegenüber der Öffentlichkeit? Über dies und mehr sprachen wir mit Wilfried Hinsch und Susanne Brandtstädter.
Forschung ist unerlässlich für den Fortschritt, aber sie kann uns auch gefährlich werden. Unter welchen Umständen dies der Fall ist, diskutierten wir mit Wilfried Hinsch und Susanne Brandtstädter. Sie haben das kürzlich bei De Gruyter erschienene Buch „Gefährliche Forschung?“ herausgegeben.
Prof. Dr. Wilfried Hinsch ist Philosoph und Professor an der Universität zu Köln mit den Arbeitsschwerpunkten in Politischer Philosophie und Ethik. Außerdem ist er seit 2002 Mitherausgeber der Reihe „Ideen und Argumente“.
Prof. Dr. Susanne Brandtstädter ist Chinaethnologin und Professorin am Lehrstuhl Ethnologie der Globalisierung der Universität zu Köln. Zudem ist sie Mitglied des Global South Studies Center Cologne.
Im Gespräch mit Dr. Serena Pirrotta, Editorial Director Classical Studies & Philosophy bei De Gruyter, plädieren sie für eine informierte und demokratische Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen und behandeln dabei unter anderem Themen wie Genforschung, Gender, Big Data und künstliche Intelligenz.
Serena Pirrotta: Bei dem Titel „Gefährliche Forschung“ denke ich sofort an bedrohliche Science Fiction-Szenarien. Was ist mit „Gefährliche Forschung“ gemeint? Inwiefern kann Forschung gefährlich werden?
Susanne Brandtstädter: In dem von mir und Wilfried Hinsch herausgegebenen Band geht es weder um Atomwaffen noch um militärische Forschung. Stattdessen verstehen wir unter „gefährlicher Forschung“ wissenschaftliche Forschungen, deren Ergebnisse potentiell geeignet erscheinen, die Idee einer grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen infrage zu stellen – vor allem dann, wenn eine informierte und demokratische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen ausbleibt.
“Wir verstehen unter ‘gefährlicher Forschung’ wissenschaftliche Forschungen, deren Ergebnisse potentiell geeignet erscheinen, die Idee einer grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen infrage zu stellen.”
Der konkrete Anlass unserer Beschäftigung mit diesem Thema vor einigen Jahren war ein Artikel des renommierten Genforschers David Reich in der New York Times. Hier verweist Reich auf die neuesten Ergebnisse der Populationsgenetik, die entgegen der seit den 70er Jahren vorherrschenden Meinung in Wissenschaft und Gesellschaft statistisch relevante genetische Unterschiede zwischen menschlichen Abstammungsgruppen findet. Hier geht es nicht um “Rassen” sondern um die Nachfahren historischer Populationen. Solche Populationen können über lange Zeiträume hinweg, auch im Zusammenspiel mit Umwelteinflüssen, einige statistisch relevante genetische Unterschiede entwickeln.
Solche Ergebnisse sind per se weder unbedeutend noch schlecht: Wie auch in der neuen Gender-Medizin ermöglichen sie z.B. eine größere Sensibilität für mögliche unterschiedliche Krankheitsbilder bei europäischen, asiatischen und afro-amerikanischen Patienten.
Gerade mit Hinblick auf die rasante Entwicklung populationsgenetischer Forschung drängt Reich jedoch darauf, eine informierte, innerwissenschaftliche und gesellschaftliche Debatte über populationsgenetische Unterschiede zu führen, anstatt sie zu ignorieren oder tot zu schweigen. Ansonsten sieht er die Gefahr, dass Teile der Öffentlichkeit in ihnen den wissenschaftlichen Beweis einer fundamentalen Ungleichheit zwischen Menschen sehen und sie zur Bestärkung eigener anti-egalitärer Sichtweisen und rassistischer Vorurteile nutzen. Reich selbst, und das ist, glaube ich, ganz wichtig, sieht diese Gefahr explizit nicht von den wissenschaftlichen Erkenntnissen selbst ausgehend, sondern einzig von ihrer Interpretation durch die Brille existierender Vorurteile und rassistischer Denkweisen.
Wilfried Hinsch: Eine ganz ähnliche Gefahr besteht mit Blick auf Forschungen im Bereich der Datenanalyse – Stichwort „Big-Data“ und „Künstliche Intelligenz“. Computergestützes Profiling und Scoring zur Vorhersage menschlichen Verhaltens, etwa bei der Kriminalitätsbekämpfung, der Ermittlung von Kreditwürdigkeit oder auch bei der Berechnung von Versicherungspolicen führen zu Ungleichbehandlungen, die man durchaus für problematisch halten kann.
Auch hier ermöglichen neue, durch Informations- und Datenwissenschaften zutage geförderte Erkenntnisse über die Unterschiede zwischen Menschen eine Ungleichbehandlung, die das grundrechtliche Gleichheitsgebot durchaus tangieren und vielleicht auch infrage stellen. So nimmt etwa Christoph Markschies in seinem Beitrag zu unserem Band „Gefährliche Forschung“ mit dem Titel „Wer entscheidet, ob ich potentiell gefährlich bin?“ diese Problematik auf. Er diskutiert inwieweit die mit der Computertechnik einhergehende Abbildung in Zahlen bestehende Ungleichheiten in problematischer Weise verstärken kann.
Und auch Mathias Risse nimmt das Thema „Gleichheit und Differenz“ auf in beiden Bereichen, Genetik und Künstliche Intelligenz. Er sieht in beiden Bereichen sehr wohl Anlass für Befürchtungen und kritische Entwicklungen, aber etwas optimistischer eine Chance für eine umfassendere Würdigung menschlicher Diversität.
SP: Geht es in dem Band um Forschung, deren Ergebnisse das Prinzip der Gleichheit aller Menschen infrage stellen könnten?
WH: Ja, wohl nicht so sehr grundsätzlich infrage stellen könnten, aber doch in einzelnen Punkten Ungleichbehandlungen gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, die womöglich in Widerspruch zu diesem Prinzip stehen. Das ist, glaube ich, der Punkt. Es geht nicht so sehr um eine grundsätzliche Infragestellung, sondern um eine punktuelle Durchlöcherung.
SP: Frau Brandtstädter, warum ist für Sie speziell als Ethnologin dieses Thema relevant gewesen?
SB: Ethnologen in den USA haben Reichs Ansinnen damals öffentlich zurückgewiesen. Die Ethnologie ist aber auch selbst spätestens seit den 80er Jahren als potentiell gefährliche Forschung oder gefährliche Wissenschaft in die Kritik geraten. Und zwar nicht nur wegen der Verstrickung namhafter deutscher Ethnologen mit der Bevölkerungs- und Rassenpolitik der Nazizeit, sondern ganz allgemein auch aufgrund der historischen Verbindungen zwischen Ethnologie und Kolonialismus, die den „Nutzen“ ethnologischer Erkenntnisse und die Darstellung des Fremden und Anderen zum Politikum gerade auch innerhalb der Ethnologie gemacht haben. Es gab eine große Debatte um die Darstellungsweisen, um die Dekolonialisierung, das ist jetzt auch wieder eine ganz wichtige Debatte innerhalb der Ethnologie.
“Die Auseinandersetzung zwischen den Naturwissenschaften und den Geistes- und Sozialwissenschaften ist gerade im Bereich der Genderforschung heute von einer besonderen Härte geprägt.”
Es ist auch so, dass die moderne Ethnologie als Kultur- und Sozialanthropologie (sozio)-biologische Erklärungen menschlichen Verhaltens typischerweise oder eigentlich durchgehend ablehnt, auch weil solche Ansätze als potentiell „gefährlich“ betrachtet werden. Das ist gerade der Fall in der neueren Ethnologie zu Verwandtschaft und Gender. Wo „biologische Fakten“ lange als Grundlage des Vergleichs von Verwandtschafts- und Familienformen betrachtet wurden, spielen die heute eine viel geringere Rolle mehr. Man denkt Verwandtschaft und Gender jenseits dieser sogenannten biologischen Fakten, um u. a. überzeugend aufzuzeigen, dass die Praxis und “Materie” von Verwandtschafts-, Familien- und Genderbeziehungen auch ganz anders gedacht werden kann, und dabei nicht weniger logisch vorgegangen wird. Problematisch ist also nicht die Körperlichkeit des Menschen, sondern problematisch kann es dann werden, wenn körperliche Prozesse und ihre stark kulturell geprägte Interpretation zu “biologischen Fakten” verschmolzen werden.
Wir wissen ja alle, dass – nicht nur in der Ethnologie – die Auseinandersetzung zwischen den Naturwissenschaften und den Geistes- und Sozialwissenschaften gerade an dieser Stelle, gerade im Bereich der Genderforschung heute von einer besonderen Härte geprägt sein kann. Hier funktioniert m.E. auch die innerwissenschaftliche Kommunikation nicht, obwohl gerade aus dem Bereich der Soziobiologie und Primatologie interessante neue Impulse zu dieser Thematik kommen.
SP: Jetzt möchte ich zu einem anderen Thema kommen, und zwar zu der Rolle der Wissenschaft in der Demokratie. Das ist ein thematischer Schwerpunkt dieses Bandes, genauso wie für die Reihe Edition Wissenschaft und Demokratie. Haben Forscherinnen und Forscher in einer demokratischen Gesellschaft besondere Pflichten gegenüber der Öffentlichkeit?
WH: Ja, unbedingt würde ich sagen, wenn auch nicht in jedem Fall eine individuelle Pflicht des einzelnen Forschers oder der einzelnen Forscherin mit ihren Ergebnissen an die Öffentlichkeit zu treten. Als gesellschaftliche Unternehmung aber hat die Wissenschaft mit ihren Einrichtungen eine Verantwortung für die Gesellschaft, und auch eine Pflicht in einen Austausch mit der Öffentlichkeit über Forschungsergebnisse und auch über den Beitrag, den diese Ergebnisse zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten können, zu treten.
“In der modernen Welt bedeutet aufgeklärte Öffentlichkeit eben auch wissenschaftlich aufgeklärte Öffentlichkeit.”
Eine Demokratie wäre gar nicht denkbar, ohne eine aufgeklärte Öffentlichkeit, die in vernünftiger Weise zu einer politischen Meinungsbildung gelangt. Und in der modernen Welt bedeutet aufgeklärte Öffentlichkeit eben auch wissenschaftlich aufgeklärte Öffentlichkeit. An der Stelle sind nicht nur, aber auch, die Wissenschaftler gefordert zu dieser Aufklärung beizutragen, zusammen mit Verlagen, Wissenschaftsjournalisten, Redakteuren, Schriftstellern und vielen anderen. Aber natürlich, da es um wissenschaftliche Aufklärung geht, sitzen die Wissenschaftler gewissermaßen an der Quelle dessen, worum es geht. Gerade in Zeiten von Fake News, sozialen Medien und medialen Echokammern kann es sicher ohne eine verstärkte wissenschaftliche Aufklärung keine vernünftige demokratische Meinungsbildung geben.
So widmet sich Nicole Krämer in dem Band – die übrigens meine Co-Leiterin aus Duisburg/Essen in dem Forum ist – als Sozialpsychologin der Frage, inwieweit künstliche Intelligenzen, also Maschinen mit menschenähnlichen Fähigkeiten, Pflegeroboter zum Beispiel, überhaupt von uns verstanden werden können, in dem Sinne, in dem wir andere Menschen verstehen. Dabei stellt sie auch eine ganze Reihe populärer Annahmen infrage.
Ich selbst nehme in meinem Beitrag „Unterschiede, auf die es ankommt“ aus Sicht der politischen Philosophie das Diskriminierungsthema auf. Das sind zwei Beispiele.
SB: Ich würde gerne auch noch einmal die große Bedeutung hervorheben, die nicht nur der Freiheit, sondern ebenso der Form von wissenschaftlicher Kommunikation und des wissenschaftlichen Austauschs zukommt, und das gerade auch innerhalb der Universitäten.
Diese Art von Kommunikation und Austausch innerhalb und jenseits der Wissenschaft und der Gesellschaft wird ja nicht nur durch disziplinäre Abkapselungen und obskure Fachsprachen behindert, sondern auch durch die Tendenz, andere Fragestellungen oder ganze Forschungsbereiche schnell als ideologisch, schädlich bzw. als „gefährlich“ zu brandmarken, wodurch eine bereits schwierige transdisziplinäre Verständigung fast unmöglich gemacht wird. Hier hat man sich bisher bestenfalls ignoriert. Das Verhältnis von Humanbiologie und Genderwissenschaft ist, glaube ich, nur ein besonders eindrückliches Beispiel für die Schwierigkeiten transdisziplinärer Kommunikation. Ich glaube aber, dass die Verständigung über solche „Bruchstellen“ hinaus wirklich originäres, „out-of-the-box“ Denken oft erst möglich macht.
Bei Studierenden der Ethnologie habe ich auch gemerkt, dass dazu die Furcht eine Rolle spielen mag, sich versehentlich politisch inkorrekt zu positionieren und deswegen „gedisst“ zu werden, oder bestimmte Inkongruenzen auch nur als Frage aufzuwerfen. Eine Beschäftigung mit herausfordernden bzw. strittigen gesellschaftlichen Themen wird in der Folge eher gemieden als gesucht. Dazu gibt es auch Untersuchungen, gerade aus den USA, dass Studierende daher solch “heiße” Themen eher vermeiden; für Akademiker gilt das sicher ebenso. Ich finde das ist eine schwierige Entwicklung, nicht nur für die Wissenschaft, sondern für die Gesellschaft als Ganzes.
SP: Ohne Kommunikation kommt man irgendwie nicht voran. Aber für die breite Öffentlichkeit ist gerade das sehr schwer nachzuvollziehen, dass es eben nicht DIE Wissenschaft gibt mit DER einen Wahrheit, sondern mehrere Wissenschaften mit unterschiedlichen Methoden, die dann zum selben Sachverhalt durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können und daher auch zu unterschiedlichen Empfehlungen, z.B. für die Politik. Das haben wir ja gesehen während der Corona-Pandemie.
“Die Wissenschaftsfeindlichkeit beginnt nicht vor den Toren der Universität.”
WH: Vielen Dank. Diese Vielstimmigkeit der Wissenschaft ist tatsächlich ein ernstes Problem, wobei man doch sehen muss, dass das Unverständnis für die Wissenschaft, die innere Differenziertheit, die Vielfalt der Methoden und auch die Vielfalt der Kontroversen, kein Problem ist, das nur zwischen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit auftritt. Die Wissenschaftsfeindlichkeit beginnt nicht vor den Toren der Universität, sondern schon in den Universitäten, zwischen den Fakultäten und Disziplinen. Das Thema hat Susanne im Grunde schon angesprochen. Wenn Sie etwa an die Geistes- und die Technikwissenschaften in ihrem Verhältnis zueinander denken, da besteht sicher ein ganz großes Unverständnis und womöglich auch ein wechselseitiges Stillschweigen und Bestreiten der Wissenschaftlichkeit. Ähnliches gilt, wenn Sie etwas an die Soziobiologie im Verhältnis zur philosophischen oder theologischen Ethik denken.
Das ist ein Problem, das sich das Wissenschaftsforum ganz ausdrücklich vorgenommen hat. Unsere Idee ist, dass wir den Austausch mit der allgemeinen Öffentlichkeit inneruniversitär, das heißt in einem Diskurs zwischen den Disziplinen und Fakultäten vorbereiten. Dafür ist die Universität besonders gut geeignet, weil sie so viele verschiedene Menschengruppen einschließt, Studierende und Forschende aus ganz verschiedenen Gesellschaften, sozialen und kulturellen Hintergründen. Wir versuchen aber auch Menschen des öffentlichen Lebens einzubeziehen aus Wirtschaft und Gesellschaft, Politik, Journalismus, so dass man innerhalb dieses universitären Rahmens eine Diskussion in Bewegung setzt, die dazu führt, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch über Disziplingrenzen hinweg besser verstehen und damit auch in einer verständlicheren Weise nach Außen treten können. Das Ziel ist nicht, dass am Ende doch alle dasselbe sagen. Das wäre sicher verkehrt und ist ganz unerwünscht. Das Ziel ist, dass nach Außen erkennbar wird: die Wissenschaftler untereinander verstehen sich zumindest.
Dieses Konzept wird übrigens, wenn ich da noch Eigenwerbung machen darf, im ersten Band unserer Reihe „Öffentliche Vernunft? Die Wissenschaft in der Demokratie“ vorgestellt und auch ein bisschen hin und her gewendet.
SP: Und auch dieser Band ist Open Access erhältlich. Jetzt noch eine Frage zum Schluss: Wenn Sie einen Wunsch an die Wissenschaftspolitik und an ihre Kolleginnen und Kollegen richten könnten, was würden Sie sich wünschen?
SB: Ich wünsche mir weniger Angst vor kontroversen Diskussionen und wissenschaftlichen „Saalschlachten“. Ich wünsche mir studentische Debattierklubs anstelle von „safe spaces“. Wir brauchen nicht noch mehr Scheuklappen, sondern eine offene und engagierte Diskussion gerade innerhalb der Universitäten über gesellschaftliche Veränderungen, neues Wissen und neue Herausforderungen. Und dazu brauchen wir auch Stimmen aus allen Bereichen von Universität und Gesellschaft, inklusive die Stimme der sozial Benachteiligten aller Couleur.
WH: Dem kann ich mir an dieser Stelle nur anschließen.
SP: Ich bedanke mich bei Ihnen, Herrn Prof. Hinsch und Frau Prof. Brandtstädter, für das Gespräch und dass Sie sich die Zeit genommen haben.
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