„Unsere Sprache vermittelt eine Schieflage in Bezug auf die Geschlechter“: Susanne Günthner und Constanze Spieß im Interview

Mitgemeint ist nicht mitgedacht. Bei der sprachlichen Sichtbarmachung von Frauen und diversen Personen ist Kreativität nicht zu verteufeln, sondern zu begrüßen, sagen Susanne Günthner und Constanze Spieß.

Dieser Beitrag ist Teil einer Reihe zum Thema geschlechtergerechter Sprache.

Ob unter Autor*innen, PolizistInnen oder Rentner_innen: allerorts bahnen sich neue sprachliche Formen gegen Diskriminierung ihren Weg in unseren Alltag. Das Gendersternchen findet sich mittlerweile als Eintrag im Duden, doch bleibt Kritik dabei nicht aus: Zuletzt positionierte sich die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) ausdrücklich gegen das Sternchen als geeignetes Mittel zur Umsetzung diskriminierungsfreier Sprache. Zu uneindeutig, zu nonkonform mit der deutschen Rechtschreibung sei das umstrittene Sonderzeichen in dieser Funktion.

Doch Prof. Dr. Susanne Günthner von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Prof. Dr. Constanze Spieß von der Universität Marburg gehen in Widerspruch. Bereits seit langem beschäftigen sich die beiden Sprachwissenschaftlerinnen mit dem Spannungsfeld von Sprache und Geschlecht und plädieren für mehr Mut zum Wandel. Wir luden die beiden zum Interview und sprachen mit ihnen über die Gründe für eine gendersensible Sprache, über bewusste und unbewusste Positionierungen in der Debatte sowie über mögliche Entwicklungen in der Zukunft.

De Gruyter: Frau Spieß und Frau Günthner, vielen Dank, dass Sie da sind. Bevor wir speziell auf das Gendersternchen zu sprechen kommen, zuerst einmal die Frage: gendergerecht oder gendersensibel schreiben und sprechen, was bedeutet das genau für Sie?

„In unserer Sprache ist kodiert: Mann gleich Norm, Frau gleich Abweichung von dieser Norm.”

Susanne Günthner: Das Thema treibt mich seit dem Ende der 70er Jahre um, als ich Studentin und Hilfskraft von Senta Trömel-Plötz und Luise Pusch in Konstanz war. Damals begann die Debatte über Diskriminierung von Frauen in unserer Gesellschaft und inwiefern Frauen auch sprachlich diskriminiert werden. Bis heute ist die Debatte eng verwoben mit der Frage nach der Repräsentation der Geschlechter in unserer Sprache, es geht also um Personenbezeichnungen. Als Linguistinnen wissen wir, dass Sprache eines unserer wichtigsten Mittel zur Wirklichkeitskonstitution ist. Die Sprache liefert uns eine spezifische Sicht auf die Welt und vermittelt uns Relevanzen, Normen und Wertsysteme der betreffenden Sprach- und Kulturgemeinschaft. Die deutsche Sprache weist in Zusammenhang mit Personenbezeichnungen eine starke Schieflage zu Gunsten der Männer auf. Das heißt in unserer Sprache ist kodiert: Mann gleich Norm, Frau gleich Abweichung von dieser Norm.

Das ist auch, was Constanze Spieß, Dagmar Hüpper und mich selbst 2008 dazu gebracht hat, mal wieder eine Gender-Tagung “Sprachliche Konstruktionen von Geschlechtsidentitäten” zu organisieren – dass es seit den 1990er Jahren etwas sehr still um die Genderlinguistik geworden war. Diese Tagung, die dann in dem Sammelband “Genderlinguistik” mündete, sollte den Themenbereich Gender und Sprache erneut aufgreifen und eruieren, was sich mittlerweile getan hat und was aktuelle Fragen sind. Und erst danach, auch durch die Queer-Studies, wurde das Thema immer brisanter.

Aber Sie fragten nach gendergerechter und gendersensibler Sprache. Wie werden die Geschlechter in unserer deutschen Sprache repräsentiert? Welche Weltsicht, welche Normen, welche Relevanzen werden dadurch sichtbar? Wie gesagt haben wir in unserer Sprache in Bezug auf Personenbezeichnungen eine deutliche Asymmetrie zu Ungunsten von Frauen. Das heißt unsere Sprache vermittelt eine androzentrische Perspektive und damit eine Schieflage in Bezug auf die Geschlechter. Folglich stellt sich die Frage: Wollen wir weiterhin eine solche Schieflage zu Ungunsten von Frauen, oder wollen wir eine Sensibilität für dieses Phänomen erzielen und damit auch eine sprachliche Gleichstellung der Geschlechter?

Constanze Spieß: Ich würde noch hinzufügen, es geht nicht nur um die Unterrepräsentation von Frauen in der Sprache, sondern generell geht es dabei auch um die Vielfalt der Geschlechter. Und dann gibt es da noch einen Unterschied zwischen geschlechtergerechtem und geschlechtersensiblem Sprachgebrauch. Wenn ich von geschlechtergerechtem Sprachgebrauch spreche, dann möchte ich möglichst der Vielfalt der Geschlechter gerecht werden. Spreche ich von geschlechtersensiblem Sprachgebrauch, geht es mir darum, dass ich bewusst machen möchte, dass es eine Geschlechtervielfalt gibt. Und das ist ja zum Glück in den vergangenen Jahren auch in den Medien verstärkt diskutiert worden – wie die unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten repräsentiert werden können. Es geht nicht nur um Mann und Frau und die Binarität und das heteronormative Modell, sondern es geht auch darum, dass queere Personen und Transgender-Personen in der Sprache repräsentiert werden. Da haben sich eben die zwei Termini etabliert: gendergerecht und gendersensibel, die je für sich noch einmal eine eigene Perspektive auf den Sachverhalt abbilden.

„Gendergerechtigkeit“ bedeutet, dass ich allen Geschlechtsidentitäten gerecht werden möchte. Ich persönlich bevorzuge den Ausdruck „Gendersensibilität“ deswegen, weil es darum geht, etwas bewusst werden zu lassen. Ob ich jemandem mit meinem Sprachgebrauch gerecht werde, kann ich ja letztlich gar nicht einschätzen. Bei der Sensibilität ist dieses „gerecht werden“ etwas zurückgenommen und man möchte ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es eine Pluralität der Geschlechtsidentitäten gibt.

DG: Es gibt mittlerweile verschiedene sprachliche Verfahren, mit denen versucht wird, solch eine Sensibilität zu erzeugen – seien es stilistische Strategien wie die Doppelnennung („Lehrerinnen und Lehrer“) oder auch Ersatzformen wie „Studierende“. Dann gibt es orthographisch-typographische Markierungen, wie Gendersternchen, Binnen-I und die sogenannten Gender Gap-Varianten, und auch grammatisch-syntaktische Verfahren. Sind das Verfahren, die aus Ihrer Sicht zur Gendersensibilität beitragen können?

CS: Ja, meines Erachtens schon. Susanne Günthner hat ja bereits angedeutet, dass durch das generische Maskulinum, das in unserer Sprache seit langer Zeit als Norm erachtet wird, auch bei Personenbezeichnungen das männliche Geschlecht assoziiert wird. Wenn ich aber andere Formen verwende, breche ich das auf. Insofern halte ich es für wichtig, eine Vielfalt zu praktizieren. Das passiert ja auch; vor allem in sozialen Medien ist viel Kreativität im Umgang mit Geschlechtsvielfalt zu sehen und auch in bestimmten Kommunikationsbereichen, wie beispielsweise in der Wissenschaft, finden Gendersternchen und -gap zunehmend Verbreitung.

SG: Ich würde mich da anschließen. Es liegt diese Vielfalt in Bezug auf Schreibweisen vor, wie Doppelnennungen, Binnen-I, Schrägstrich, Partizipialkonstruktionen oder neutralen Begriffen, wie „Lehrende“ oder „Lehrkraft“ und das Generische Femininum. Aktuell hinzu kamen in den letzten Jahren auch die Verwendung von Unterstrichen, die X-Form, das Sternchen, Ausrufezeichen, Tremazeichen, also einem diakritischen Zeichen mit zwei Punkten auf dem ï, etc. Ich finde es nicht störend, dass unterschiedliche Schreibweisen propagiert und verwendet werden – im Gegenteil. Das ist Diversität und warum nicht? Wir probieren im Moment aus. Man kann damit kreativ umgehen und wir alle, die mit Sprache zu tun haben, wissen: Sprache ist extrem Kontext-sensitiv und muss Kontext-sensitiv sein. Mit dem Sprachgebrauch variiere ich nicht nur je nach Kontext, sondern ich stelle mit Sprache auch aktiv den Kontext her. Das heißt, je nachdem welche Begriffe ich benutze – ob ich sage „Wir plaudern“, „Wir schwätzen“, „Wir reden“ oder „Wir diskutieren“ – positioniere ich mich in Bezug auf unser Gespräch. Das ist wichtig und darum finde ich es auch nicht tragisch, dass aktuell verschiedene Genderschreibweisen ausprobiert werden. Ich hätte eher Probleme, wenn jemand propagiert: man darf jetzt nur noch das Sternchen oder das-und-jenes verwenden.

Ich freue mich, dass Constanze Spieß bei diesem Gespräch dabei ist, denn wir gehören ja unterschiedlichen Generationen an. Wir haben diese Entwicklung unterschiedlich miterlebt und ich bin seit den 1980er Jahren eine starke Vertreterin des Binnen-Is. Das Binnen-I ist für mich insofern interessant, als es ein Zeichen repräsentiert, das graduelle bzw. skalare Übergänge indizieren kann. Da kann sich jede oder jeder vertreten fühlen. Das Sternchen ist für mich etwas irritierend, da es in der Linguistik traditionellerweise für etwas Ungrammatisches gebraucht wird. Das ist, einigen VerfechterInnen des Sternchen zufolge, ja auch der Sinn – dass etwas stört oder nicht in traditionelle Regeln passt. Aber es trennt mal wieder die Frauen ab vom Stamm, nämlich von den Männern, die die Norm repräsentieren: Lehrer-Sternchen-innen. Das heißt, auch hier wird wieder der Stamm, also die männliche Form, präsentiert, dann kommt durch das Sternchen eine Abtrennung und dann erst als Zusatz, der Appendix, und damit die feminine movierte Form. Das finde ich nicht sehr geglückt. Tremazeichen und Ausrufezeichen finde ich da schon interessanter. Das sind jedoch alles Versuche, mit dem Problem der androzentrischen Perspektive umzugehen, und dass so eine Debatte geführt wird, finde ich positiv.

Mir scheint es allerdings wichtig, zu betonen, dass all diese diakritischen Zeichen semiotisch aufgeladen werden. Es ist nicht so, dass ein Sternchen oder ein Ausrufezeichen per se Trans- oder Intersexualität oder Diversität markiert. Es wird entsprechend semiotisch kodiert. Letztendlich reflektiert das Zeichen immer auch, wer die Schreiberinnen oder Sprecherinnen sind. Das heißt ich positioniere mich als SchreiberIn, indem ich ein Sternchen oder Ausrufezeichen oder aber ein generisches Maskulinum verwende. Diese ideologische Positionierung, die dadurch passiert, sollte mitreflektiert werden.

Ich hätte noch eine Frage an Constanze Spieß: mir ist bei der Debatte nicht klar, weshalb durch Sternchen oder ähnliches angeblich sexuelle Präferenzen bzw. Kritik an der Heteronormativität markiert werden. Es geht hier doch um Identitäten und die Repräsentation von Personen unterschiedlichen Geschlechts und nicht – wie bei Heteronormativität – um sexuelle Präferenzen oder Zuordnungen. Das hat mit Identität ja nichts zu tun. Die Kritik am generischen Maskulinum ist doch eine Kritik an der sprachlich kodierten Schieflage zugunsten aller Personen, die sich klar als “MANN” identifizieren. Das ist doch zunächst völlig unabhängig von sexuellen Ausrichtungen, wie hetero, bi, homo etc.

CS: Das würde ich im Hinblick auf das Generische Maskulinum auch so sehen. Da hast du mich vielleicht falsch verstanden. Zunächst zeigen Sternchen und ähnliches nur an, dass es Geschlechtervielfalt gibt und wir nicht einfach von Zweigeschlechtlichkeit ausgehen können. Sexuelle Präferenzen werden durch das Sternchen oder den Gap, das Trema ï etc. erst einmal gar nicht ausgedrückt. Dennoch sehe ich in der Verwendung von Beidnennungen oder des Binnen-Is die Binarität der Geschlechter kodiert, das wird meines Erachtens durch Gendergap oder Sternchen aufgebrochen, bedingt auch durch die Diskurse, die darum geführt werden. Wenn das Binnen-I aber in Zusammenhang mit anderen Möglichkeiten verwendet wird, dann habe ich auch nichts dagegen.

Das Binnen-I benutze ich wenig und sehr selten und wenn, dann nur im Zusammenhang mit ganz vielen anderen Möglichkeiten. Wenn ich Texte schreibe, dann verwende ich oftmals unterschiedliche Markierungen, um diese Pluralität zu kennzeichnen. Mich stört auch überhaupt nicht, dass es viele Möglichkeiten gibt. Aber dieses Binnen-I, diese klare Trennung zwischen männlich und weiblich, ist im Diskurs, gerade im poststrukturalistischen Diskurs, so aufgefasst worden, dass es darum geht, die Binarität der Geschlechter aufrechtzuerhalten. Auch in der Doppelnennung oder in der Paarschreibung ist das der Fall. Dagegen wurde eben so etwas wie der Gender-Gap oder das Sternchen gesetzt. Und natürlich kann man auch einwenden, dass das Sternchen, wenn es nicht dynamisch verwendet wird, wieder die weibliche Perspektive abtrennt. Anders ist es natürlich beim dynamischen Gender-Gap, den man ja irgendwohin setzen kann.

„Sobald ich eine Schreibweise verwende, positioniere ich mich im Diskurs.”

Wichtig ist mir auch zu betonen, dass diese Zeichen natürlich semiotisch aufgeladen sind und, dass man sich, egal was man verwendet, positioniert. Das heißt, dass sich auch diejenigen immer schon positionieren, die sagen „Ich benutze das generische Maskulinum, weil ich alle damit meine oder weil mir gendern egal ist.“ Sobald ich eine Schreibweise verwende, positioniere ich mich im Diskurs. Weil diese verschiedenen Schreibweisen eben für bestimmte Positionen stehen. Vielleicht sind sich dessen nicht immer alle Sprachteilhaber*innen bewusst, aber es ist einfach so. Wenn diejenigen Verfechter und Verfechterinnen des generischen Maskulinums das so behaupten, dann ist das einfach nicht korrekt, sondern eine ideologische Position, die sie einnehmen. Sprechen und Sprachgebrauch erfolgt immer aus einer bestimmten Perspektive und die Perspektivität ist immer schon im Sprachgebrauch enthalten. Wie Susanne Günthner sagt, wichtig sind die Kontexte einerseits und Kontextualisierungspotenzial von Sprache andererseits.

DG: Eine Anschlussfrage zur ideologischen Positionierung; ist diese bei der Verwendung des generischen Maskulinums so eindeutig? Es gibt ja auch Positionen, die das generische Maskulinum als sprachliches Instrument des „Undoing Gender“ sehen, weil es Geschlechtsidentitäten verwischt. Es käme dabei darauf an, den Wortinhalt anders zu definieren.

SG: Nein, die Positionierung ist keineswegs stets eindeutig. Ich komme aus dem Schwarzwald und wenn ich dorthin fahre, in mein Schwarzwald-Dorf, und mit der Verwandtschaft rede, reden sie natürlich von „dem Lehrer“, über „die Gärtner“ oder „die Norddeutschen“. Da würde ich nicht sagen, dass das ideologisch aufgeladen ist und diese Personen sich im aktuellen Diskurs gegen gendergerechte Sprache positionieren. Aber man kann sich mit der Verwendung des generischen Maskulinums sehr wohl positionieren. Und auch daran zeigt sich mal wieder die Kontextabhängigkeit und Kontextkontingenz von Sprache. Wenn ich als Studentin, zum Beispiel, in einer wissenschaftlichen Abhandlung in der Germanistik das generische Maskulinum verwende, ist es etwas anderes, als wenn Personen, die mit dieser Debatte nicht vertraut sind, dies in ihrer Alltagssprache tun. Die Studentin ist mit diesem Diskurs in der Sprachwissenschaft vertraut und setzt das Maskulinum bewusst ein. Oder, wenn auf AfD-Plakaten „natürlich“ generisch maskuline Formen verwendet werden, dann positioniert sich die Partei bewusst damit. Gerade beim Wahlkampf ist das interessant: wer gendert in welchen Zusammenhängen und wer nicht?

Früher, während meines Studiums in den 1980er Jahren, plädierten wir als feministisch engagierte Studentinnen der Sprachwissenschaft für Beidnennung, Schrägstriche oder Binnen-I. Da war die Verwendung des generischen Maskulinums oftmals ein Zeichen dafür, welche politische Ausrichtung jemand hat, welches Studienfach er oder sie studiert oder ob jemand aus der Ex-DDR kommt. Wenn damals eine Frau sagte „Ich bin Student“, war dies oftmals ein Indiz, dass sie von dort kommt. Heute ist dies nicht mehr regional einzuordnen. Häufig passiert es bei studentischen Hausarbeiten, dass eine Fußnote am Anfang steht: „Für mich ist das generische Maskulinum neutral und ich werde es im Folgenden in der Arbeit verwenden.“ Auch dies ist eine Positionierung.

CS: Man muss bedenken, dass es zahlreiche psycholinguistische Studien zum generischen Maskulinum gibt. Diese Studien haben herausgefunden, dass man bei der Verwendung maskuliner Formen bei Personenbezeichnungen männliche Personen assoziiert und dass generisches Maskulinum gerade nicht geschlechtsabstrahierend fungiert. Und da gibt es bei Personenbezeichnungen natürlich schon die Korrelation zwischen biologischem und grammatischen Geschlecht. Das passt in diesem Kontext zusammen. Klar, es gibt die Diskussion – da stimme ich Susanne Günthner zu – dass, das generische Maskulinum nicht eindeutig sei. Man könnte das auch ganz abtrennen und von der Arbitrarität des grammatischen Geschlechts ausgehen. Darum ging auch die Diskussion ganz am Anfang der 70er Jahre zwischen Hartwig Kalver-Kämper und Senta Trömel-Plötz. Kalverkämper vertrat die Position, dass grammatisches Geschlecht/Genus reine Form ist und nichts mit dem Sexus zu tun hat, wie das bereits auch Aristoteles schon vertreten hat.

SG: Ich will dies nicht abstreiten, Constanze. Diese Studien seit den 80er Jahren bis heute zeigen immer wieder dasselbe: dass mit dem sogenannten generischen Maskulinum Frauen zunächst nicht sichtbar werden und es länger dauert, bis kognitiv das Bild einer Frau erscheint. Wenn Personen bei Umfragen gebeten werden „Nennen Sie Ihre 10 Lieblingsautoren“, dann werden Männer genannt. Wenn gefragt wird „Nennen Sie Ihre 10 Lieblingsautoren und -autorinnen“, dann werden Frauen genannt. Wir wissen vom Max-Planck-Institut in Nijmegen, die herausragende Studien über Sprache und Kognition bzw. den Einfluss sprachlicher Kategorien auf die Wahrnehmung und das Alltagsverhalten machen, welchen Einfluss sprachliche Kategorien auf unsere Wahrnehmung der Welt haben.

Natürlich – wenn Sprachwissenschaftlerinnen oder Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, das generische Maskulinum verwenden, dann ist das etwas anderes, als wenn es Leute tun, die keine akademische Bildung haben bzw. mit dem Genderdiskurs nicht vertraut sind. Wenn meine Verwandten im Schwarzwald, die mit diesen Debatten nicht vertraut sind, sagen „Es gibt zehn neue Lehrer bei uns an der Grundschule“, dann würde ich nicht sagen, dass die sich damit in Bezug auf die vorliegenden Genderdebatten positionieren.

Ich stimme völlig mit dir überein, dass diese psycholinguistischen Studien ganz klar zeigen: da ist ein Bias, eine Schieflage in Bezug auf Personenbezeichnungen und diese Schieflage hat einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung.

CS: Genau.

DG: Diese Studien unterstützen Forderungen danach, sensibler zu werden und entsprechende sprachliche Verfahren zu finden. Häufig hört man jedoch auch Kritik, wie beispielsweise von der Gesellschaft deutscher Sprache (GfdS) im Zusammenhang mit dem Gendersternchen, dass viele Verfahren nicht mit der amtlichen Rechtschreibung vereinbar seien. Wie sehen Sie das?

SG: Die amtliche Rechtschreibung ist „man-made“ und kann sich im Zuge sozialer Veränderungen durchaus ändern und neuen Gegebenheiten anpassen. Das kennen wir ja von der Rechtschreibreform, da sehe ich kein Problem. Das Binnen-I ist nicht so sehr störend, weil man es auch schnell handhabbar von der Tastatur auf den Bildschirm kriegt. Also, da würde ich der Position der GfdS nicht zustimmen. Und es ändert sich ja vieles in der Rechtschreibung wie auch in der sonstigen Sprachverwendung. Ich erinnere mich an die Debatte um Fräulein und Frau versus Herr; damals hieß es auch, diese sprachliche Kategorisierung ist quasi gegeben im Deutschen und wir können die Kultur und die Sprache nicht willkürlich zerstören, indem wir Fräulein abschaffen oder Herrlein anschaffen. Sprache entwickelt und verändert sich, genauso wie Rechtschreibung. Es geht um die Frage: was will ich? Will ich Gleichberechtigung? Will ich auch Personen jenseits des männlichen Geschlechts explizit erwähnen? Will ich, dass sie wahrgenommen werden? Dann ist so ein Binnen-I oder ein Sternchen kein großes Problem.

CS: Das sehe ich genauso. Sprache unterliegt einem ständigen Wandel und gerade wenn wir die neuen Medien betrachten, sieht man das sehr deutlich. Und man sieht ja auch: der Duden reagiert. Der Duden macht Korpus-Studien und aufgrund dieser Korpus-Studien und der Verbreitung bestimmter Phänomene werden dann bestimmte Dinge aufgenommen. Ich wünsche mir, dass das auch von Vereinen wie der GfdS wahrgenommen wird.

„Die Standardsprache ist ein Ergebnis von politisch gesteuerten Standardisierungsbemühungen. Und die passieren permanent.”

Es ist ja nicht in Stein gehauen, dass das Gendersternchen nicht korrekt ist, oder das Binnen-I – das ändert sich. Und wenn wir heute Texte aus dem 17. Jahrhundert lesen, dann sind die aus unserer gegenwärtigen Perspektive voller Fehler. Die Standardsprache ist im Prinzip ein Ergebnis von politisch gesteuerten Standardisierungsbemühungen. Und die passieren permanent. Insofern sehe ich da überhaupt kein Problem, je nach Verbreitungsgrad, diese Änderungen auch aufzunehmen. Es gibt ja auch aktuelle Studien dazu, wie verbreitet z.B. der Asterisk oder der Gender-Gap sind. Und zwar haben Christine Ivanov, Maria B. Lange, Tabea Tiemeier, und Martin Ptok von der Universität Hannover – aus den Fächern Medizin und Germanistik – untersucht, wie diese Schreibweisen im wissenschaftlichen Diskurs verbreitet sind und sie haben festgestellt, dass sich das zu Gunsten dieser Formen ändert. Natürlich bezieht sich diese Studie erst einmal auf einen abgegrenzten Kommunikationsbereich, und zwar den der Wissenschaft. Aber hier kann man Veränderungen im Sprachgebrauch beobachten, die auch andere Bereiche durchdringen, beispielsweise werden in der Museumskommunikation das Gendersternchen und der Gendergap bei der Beschreibung von Bildern und Installationen verwendet. Hier müsste einmal untersucht werden, wie verbreitet welche Form in welchem Kommunikationsbereich ist. Mir sind momentan keine aktuellen Studien bekannt, die über einen längeren Zeitraum die Verwendung der verschiedenen Formen beobachten und untersuchen, wie das verbreitet ist.

DG: Der Rat für deutsche Rechtschreibung, der die amtlichen Rechtschreibregeln definiert, hat sechs Kriterien entwickelt, woran sich die Formen für geschlechtergerechtes Schreiben bemessen sollen – unter anderem Verständlichkeit und Lesbarkeit. Bei vielen Formen – zum Beispiel dem dynamischen Gender-Gap – würden die meisten Rezipientinnen und Rezipienten momentan wahrscheinlich erwidern, diese Form sei schwer lesbar und nicht gut verständlich. Was meinen Sie – sind wir vielleicht in 10 oder 50 Jahren dazu bereit? Was ist Ihre Prognose?

CS: Ich kann mir eine Entwicklung bezüglich der Verständlichkeit vorstellen, wenn eine Form immer mehr Verbreitung findet. Ob etwas lesbar ist oder nicht, hängt ja auch zum großen Teil damit zusammen, wie gewohnt es einem vorkommt. Zum Beispiel bemerken wir die Großschreibung innerhalb des Satzes gar nicht mehr. Uns würde auffallen, wenn alles klein geschrieben wäre. Dass uns Großschreibung innerhalb des Satzes und am Satzanfang nicht auffällt, hängt von Gewöhnung ab. Wobei ich aber sagen muss, dass es Formen gibt, an die man sich besser gewöhnen kann und da gehört der dynamische Gender-Gap erstmal nicht dazu, und auch das X, was anstelle der Endungen angefügt wird, halte ich für sehr schwer lesbar und schwer umsetzbar. Ich bin keine Prognostikerin und kann nicht gut in die Zukunft schauen, aber ich denke, es hängt immer davon ab, wie frequent Formen gebraucht werden und wir sie dann dadurch leichter wahrnehmen oder nicht. Wie siehst du das, Susanne?

SG: Ich habe gerade eine Master-Arbeit von einer Studentin vorliegen, die im Rahmen einer Vorlesung zu Sprache und Geschlecht eine (nicht-repräsentative) Untersuchung zu genderspezifischen Personenreferenzen durchgeführt hat. Dabei hat sie medizinische Beipackzettel für ein fingiertes Medikament erstellt. Sie hat diese Beipackzettel in verschiedenen Versionen verfasst – mit generischem Maskulinum, Beidnennung, Binnen-I und Sternchen – und dann ProbandInnen im Münsterland vorgelegt. Diese hatten einen recht unterschiedlichen sozialen Hintergrund, Germanistik- und Sozialwissenschafts-Studierende, Kindergärtnerinnen, Bauern etc. Die Ergebnisse waren durchaus interessant: zum einen hat die Untersuchung bestätigt, was Juliane Schröter, Angelika Linke und Noah Bubenhofer zeigten – dass es einen Altersunterschied gibt und, dass sich in der Regel Frauen über 30 eher für Beidnennung oder Sichtbarmachung von Frauen aussprechen: Während ein Viertel der Personen unter 30 Jahren in dieser Untersuchung angab, dass geschlechtergerechte Sprache für sie persönlich „unwichtig“ oder sogar „sehr unwichtig“ sei, gab dies keine der Befragungspersonen über 30 Jahren an.

Interessant fand ich auch, dass das Sternchen auf dem Land teilweise gar nicht bekannt war. Einige ProbandInnen wussten nicht, was das bedeutet und warum da so ein Sternchen steht. Beim Binnen-I war interessant, dass einige Männer Verständnisschwierigkeiten hatten, weil sie nicht wussten, ob das nur Frauen betrifft – das heißt sie haben das Binnen-I quasi als kleines i gelesen. In Bezug auf die Verständlichkeit galten die Texte mit Beidnennung am verständlichsten, weil damit auch klar war: wer ist gemeint, wer ist nicht gemeint? Das generische Maskulinum war nicht so verständlich wie die Beidnennung, weil man sich fragte: betrifft es nur die Männer, oder betrifft es auch uns Frauen? Männer erwiesen sich in Bezug auf eine Kritik am generischen Maskulinum zurückhaltender. Für sie ist das generische Maskulinum akzeptabler.

Auf die Frage „Wie möchten Sie den Beipackzettel in Zukunft geschrieben haben?“ – war, wie gesagt, bei Frauen über 30 der Wunsch etwas stärker, dass sie erwähnt werden möchten, dass sie mehr Repräsentanz oder Sichtbarkeit von Frauen möchten. Dagegen sagten junge Frauen eher: „Mir ist das egal“ – außer bei Studentinnen der Geistes-/Sozialwissenschaften, die klar für das Sternchen plädierten.

Insgesamt zeigte die Studie allerdings auch, dass gendergerechte Sprache durchaus polarisiert. Ich hatte 2015 auch schon eine Umfrage, die von Studierenden im Münsterland durchgeführt wurde. Damals gab es ja das Sternchen noch nicht. Aber ansonsten waren die Ergebnisse ähnlich – auch bezüglich der Altersstaffelung, und junge Frauen, die sich teilweise dezidiert gegen genderisierte Sprache wenden, die sagen: wir haben das nicht mehr nötig, wir haben Gleichberechtigung, wir brauchen das nicht; das stört, das nervt, oder wir wollen nicht ständig aufs Geschlecht reduziert werden; das ist etwas für unsere Großmütter, damals war das noch notwendig, heute nicht. So ein bisschen zeigt sich das auch weiterhin bei einigen jungen Frauen. Ob sich dies im Laufe der Zeit bzw. des Älterwerdens dieser Person ändern wird, weiß man nicht.

„Ich hoffe, dass das sogenannte generische Maskulinum ad acta gelegt wird, und damit auch die genderbezogene Schieflage in unserer Sprache.”

Und damit auch zur Frage „Was wird passieren in 20 oder 50 Jahren?“ Ich hoffe, dass das sogenannte generische Maskulinum dann ad acta gelegt wird, und damit auch die genderbezogene Schieflage in unserer Sprache.

Bei unserer Buchreihe „Linguistik – Impulse & Tendenzen“ machen wir keine Vorgaben bezüglich genderneutraler Sprachverwendung. Ich bin auch dagegen den AutorInnen etwas vorzuschreiben, aber wir haben das ständige Problem beim generischen Maskulinum, dass man nicht weiß, worauf es referiert. Wenn jemand schreibt „An der Untersuchung haben 50 Probanden teilgenommen“, dann weiß ich nicht, ob auch Frauen dabei sind oder nicht. Da hilft mir auch die Fußnote nicht, die besagt „Ich finde, das generische Maskulinum ist generisch und ich verwende das“. Das sogenannte generische Maskulinum ist nun mal ambig und man weiß beim ersten Hören oder Lesen zunächst nicht, ob Frauen nun mitgemeint sind oder nicht. Wenn wir keine Diskriminierung wollen, von Frauen oder diversen Personen, dann ist es einfach nicht die Wahl, die wir treffen sollten.

CS: Dem kann ich zustimmen (lacht).

DG: Stimmt – bei unseren Büchern (der LIT-Reihe) wird nichts vorgeschrieben. Das liegt in der Entscheidung der Autorinnen und Autoren. Deshalb haben wir in unseren Büchern eine Vielfalt an Schreibungen und sind gespannt, wie sich das in Zukunft weiterentwickeln wird.

SG: Ich finde den Punkt auch wichtig. Beim Vorschreiben in Bezug auf Sprache reagieren die Leute sensibel. Damit kann man leicht das Gegenteil erreichen; die Leute werden gereizt und verweigern sich dann unter Umständen dieser Debatte. Lieber – wie Constanze Spieß sagte – die Leute sensibilisieren. Dann sollen sie selbst entscheiden. Das ist, denke ich, die beste Lösung. Und damit bleibt auch die Diversität der Optionen; das finde ich nicht störend. Auch Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich genötigt fühlen, sie müssten jetzt irgendeine spezielle Form verwenden, ist zu entgegnen: das ist nicht der Fall, sie müssen nicht. Sie haben die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob sie Frauen und diverse Personen in die Referenz explizit einbeziehen wollen oder nicht. Sie sind ja eigentlich kreativ im Umgang mit Sprache und können dieses Problem entsprechend kreativ angehen.

CS: Vorschreiben halte ich auch nicht für sinnvoll. Ich mache das in meinen Seminaren auch so: aufklären und sensibilisieren für die vielen Möglichkeiten, und dann kann jede Person das auswählen, was sie selbst für richtig hält.

DG: Frau Spieß und Frau Günthner, vielen Dank für das spannende Gespräch!

[Title via Wikimedia Commons, CC BY 4.0]

Susanne Günthner und Constanze Spieß

Prof. Dr. Susanne Günthner ist Professorin für Germanistik/Sprachwissenschaft an der WWU Münster und Honorarprofessorin an der Xi’an International Studies University (XISU) in China (Foto: Julia Harth). Ihre Arbeits- bzw. Forschungsschwerpunkte umfassen u.a.: Interaktionale Linguistik, Anthropologische Linguistik, Kontrastive Sprach- und Kulturanalysen (Deutsch-Chinesisch), Gesprochene Sprache-Forschung, Konstruktionsgrammatik sowie Genderlinguistik. Prof. Dr. Constanze Spieß ist Professorin für Pragmalinguistik an der Philipps-Universität Marburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: soziopragmatische Diskursanalyse, kognitive Linguistik, Sprache und Medizin, Genderlinguistik, Politolinguistik, Sprache und bildende Kunst, Sprache und Literatur.

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