Spirituelle Dialektik – Der Geist in unendlicher Bewegung
Hinter den Erfahrungen menschlicher Solidarität steht der Kontakt mit einer geheimnisvollen Ganzheit, in der wir geborgen sind, wenn auch nicht geschützt.
Dieser Essay erschien unter dem Titel “Elemente spiritueller Dialektik” am 12.03.2021 in der Zeitschrift “Spiritual Care“.
Ich stehe vor dem Meer, seine Oberfläche ist glatt und doch bewegt. Vor mir erstrecken sich Farbteppiche, grünliche Flächen gehen in bläuliche über, helle Stellen schweben über dunklen Tiefen. Und das Licht. Gerade ist es aus locker gestreuten Wolkenbänken hervorgebrochen, die Sonne steht tief, ihre Strahlen sind golden. Sie bahnen sich einen Pfad durchs Wasser, das zu leuchten beginnt, Farben werden kräftiger, manche schimmern, verschwimmen, alles glänzt. Auch ich beginne zu glänzen, als das Licht mich trifft und für einen Moment lang ist alles eins – Mensch und Meer, Farbe und Gleißen, Sonne und Abendwind –, verbunden durch unser gemeinsames Hiersein und eine wortlose Freude über die Schönheit der Welt.
In diesen kurzen Moment des Einswerdens steckt ein grundlegendes Moment spiritueller Dialektik. Zunächst erfahre ich das Meer als etwas, das vor mir liegt, anders ist als ich, mir fremd. Im Augenblick des gemeinsamen Beglänztseins ist dieses Anders-Sein aufgehoben und ich erfahre mich weder als Meer, noch als Mensch, sondern als Verbundenheit. Wenn der gemeinsame Moment vorüber ist, stehe ich wieder vor dem Meer, aber ich habe erfahren, dass ich nicht nur Ich, sondern auch Meer bin. Doch zugleich bin ich auch die, für die diese Erfahrung als Ganzes fremd ist, bis mich ein erneuter Moment geteilter Teilhabe am Ganzen wieder aufhebt, also sowohl negiert als auch bewahrt, bis ich ihm erneut fremd werde usw.
Spiritualität, wie ich sie verstehe, hat etwas mit dieser unendlich scheinenden Bewegung zwischen dem Teil und dem Ganzen zu tun. Der Philosoph G. W. F. Hegel schreibt in der Phänomenologie des Geistes:
„So dass die Unterschiede, die gemacht sind, ebenso unmittelbar aufgelöst, als sie gemacht und ebenso unmittelbar gemacht, als sie aufgelöst sind und das Wahre und Wirkliche eben diese um sich kreisende Bewegung ist“ (Hegel 1807/1970: 559)
Der Ort, an dem wir an dieser Bewegung teilhaben ist unser Geist, lat. spiritus, was auch Atem bedeuten kann. Durch ihn vermögen wir nicht nur begrifflich die Welt zu erfassen, sondern auch unser Verhältnis zum Ganzen zu begreifen. Um dieses Verhältnis näher zu beleuchten möchte ich drei Elemente spiritueller Dialektik herausgreifen.
Zunächst geht es um eine Erfahrung des Anderen, also eine Zweiheit, ein Getrenntsein. Dann geht es um eine Erfahrung einer geteilten Ganzheit, wobei die Teilhabe niemals vollständig ist – und die Ganzheit niemals vollkommen. Deshalb verweist das dritte Element auf die Bewegung selbst, und damit darauf, dass spirituelle Praxis unabschließbar und prozesshaft ist. Die drei Elemente korrespondieren mit Qualitäten, die häufig mit Spiritualität assoziiert werden: Güte, Demut und Bemühung.
Im Gegensatz zu üblichen Definitionen jedoch, die Spiritualität entweder religiös einbinden, metaphysisch aus der Welt heben oder als Gefühl für höhere Dinge umschreiben, soll diese im Folgenden als Ausdruck, vielleicht auch Vollendung unseres mit unserem Menschsein gegebenen geistigen Vermögens gefasst werden. Dafür werden wir zunächst den Begriff des Geistes präzisieren, dann über die Unterscheidung zwischen Spiritualität und Spiritualness nachdenken und abschließend fragen, was diese Anschauung von Spiritualität für unser Menschsein bedeuten könnte.
Vom Anderen zum Ganzen
Bei dem Philosophen Sören Kierkegaard erscheint der Mensch als ein seltsam zusammengesetztes Wesen, das für sich selbst ein Problem ist. Und woraus ist er zusammengesetzt? Aus Ungleichartigem. Kierkegaard spricht von zwei, manchmal auch drei grundlegenden Widersprüchen, die im Lauf eines Lebens immer wieder in einen Zusammenhang gebracht werden müssen, den er „Synthese“ nennt. Balanciert werden müssen das Verhältnis von Ewigkeit und Endlichkeit und das Verhältnis von Körper und Innenwelt. In der Krankheit zum Tode (1849/1969) spricht er auch noch von der Spannung zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit. Dabei ist der Mensch keinesfalls ein widerspruchsfreies „Entweder-oder“, sondern ein lebendiges „Sowohl-als-auch“. Genauer gesagt ist er das Dritte, also der Umgang mit und die immer wieder zu leistende Vermittlung zwischen diesen Gegensätzen. Das bewusste Verhältnis des Menschen zu dieser Auswahl und Gewichtung nennt Kierkegaard „Geist“ oder „Selbst“.
Unser „Geist“ ist also der Ort, an dem wir unser menschliches Identitätsproblem als seltsam zusammengesetzte Wesen, die ebenso Teil wie auch Ganzes sind, sowohl empfinden als auch überwinden können. Dieser Geist, verstanden als Bewusstsein unseres Bewusstseins, meint deshalb weder Verstand noch Vernunft noch emotionale Intelligenz, sondern beschreibt das Vermögen, alle uns Menschen möglichen Wahrnehmungsinhalte – Gefühle und Gedanken, Erinnerungen und Träume und die unendlichen Weiten unserer inneren Welt – zu erfassen, zu bewerten und zu gewichten.
Das wiederum betrifft nicht nur unseren Umgang mit uns selbst, sondern auch unser Verhältnis zum Anderen. Dazu schreibt Kierkegaard in Der Begriff Angst:
„Sympathie soll man empfinden, doch diese Sympathie ist erst dann echt, wenn man sich recht tief eingesteht, dass allen geschehen kann, was einem Menschen geschieht. (…) Erst wenn der Mitleidende in seinem Mitleid sich zum Leidenden so verhält, dass er im strengsten Sinne begreift, dass hier von seiner eigenen Sache die Rede ist, bekommt das Mitleiden vielleicht einen Sinn.“ (Kierkegaard 1849/2008: 65)
Der Geist befähigt uns also nicht nur zur abwägenden Selbstbezugnahme, sondern auch dazu, uns in Andere hineinzuversetzen, indem wir uns vorstellen, wie wir uns selbst fühlen würden, wenn wir in dieser oder jener Lage wären. Obdachlos, beispielweise, oder hilflos oder fremd.
Zugleich lässt uns diese geistige Positionsübernahme unsere Gemeinsamkeit mit diesen Anderen erkennen, die unter der Oberfläche so sind wie wir, seltsam zusammengesetzte Wesen, die einen Geist besitzen und auch fühlen und hoffen und wollen. Auf dieses Wissen um die Einheit hinter aller Differenz verweist auch ein alter indischer Gruß. Einer Überlieferung zufolge soll Mahatma Gandhi auf eine Nachfrage von Albert Einstein, was er denn mit dem bei ihm beobachteten Gruß Namasté ausdrücken wolle, dem Wissenschaftler Folgendes geantwortet haben: „Ich ehre den Platz in dir, in dem das gesamte Universum residiert. Ich ehre den Platz in dir, wo, wenn du dort bist und auch ich dort bin, wir beide nur noch eins sind.“
In dieser Bewegung vom Anderen zu Ganzen, das wiederum als Eigenes begriffen wird, zeigen sich zwei spirituelle Qualitäten. Wenn man begreift, versteht, spürt, dass uns Menschen alle mehr verbindet, als trennt, wird man gütig. Man hört auf, auf Andere hinabzublicken und begreift die Lage der Anderen stattdessen als etwas, das einen selbst angeht. Dabei geht es nicht darum, sich aufzuopfern oder „die Welt zu retten“. Es sind immer ganz spezielle Andere, die unseren Weg kreuzen: jemand, der Hilfe braucht, oder eine Zuhörerin, oder ein Stück vom Wohlstand. Der Psychologe Viktor Frankl (1946/1977: 117) sagte an dieser Stelle, dass es nicht darauf ankomme, was wir vom Leben erwarten, sondern alleine darauf, was das Leben von uns erwarte. Doch wie können wir davon wissen? Hier spricht Hegel von Gewissen und schreibt:
„Das Gewissen (…) ist einfaches pflichtmäßiges Handeln, das nicht diese oder jene Pflicht erfüllt, sondern das konkrete Rechte weiß und tut.“ (Hegel 1807/1970: 467)
Darauf zu bestehen, dass wir es wissen können, ist eine spirituelle Position, die sich in täglicher Praxis beweisen muss. Dabei geht es aber nicht nur um die tätige Sorge für unsere Mitmenschen, sondern um die Achtung vor allem Lebendigen. An dieser Stelle spricht der Dichter Rainer Maria Rilke vom Weltinnenraum; er schreibt:
„Durch alle Wesen reicht der eine Raum: | Weltinnenraum | Die Vögel fliegen still | durch uns hindurch. Oh, der ich wachsen will, | Ich sehe hinaus, und in mir wächst der Baum.“ (Rilke 1914/1998: 879)
Ein Gewahrsein dieses Raumes ist verbunden mit einem Gefühl tiefer Demut: wie klein wir sind, wie beschränkt, und wie gewaltig und geheimnisvoll ist dagegen das Leben, an dem wir eine Weile lang teilhaben dürfen. Diese Teilhabe kann zu Gefühlen von Dankbarkeit und Freude führen, aber auch zu einer gelassenen Distanz zum Ich-Willen. An dieser Stelle wird in spirituellen Schriften oft davon gesprochen, dass derjenige, der sein Ego aufgibt, sich dadurch erst erringt. Demut ist also nicht nur eine Haltung dem Leben gegenüber, sondern auch eine Weise, von sich abzusehen, um auf einer tieferen Ebene wieder bei sich anzukommen.
“Die Ganzheit, die wir berühren, erscheint nicht vollkommen, sondern gebrochen, unstet, widersprüchlich.”
Doch wie soll das alles enden? Spiritualität wird oft als Weg verstanden, eine Klärung des Geistes, eine Öffnung des Herzens, und irgendwann: Erleuchtung, Heiligkeit, ewiger Frieden. Ich glaube, dass in diesen Versprechungen eines Ankommens zwei Gefahren liegen. Zum einen in der Fehleinschätzung, bereits „gerettet“ zu sein, was oft zu elitärer Selbstüberschätzung und Verachtung der Unwissenden führt. Zum anderen ist es möglich, sich bei seiner Suche auf das Falsche zu konzentrieren: auf das Ziel statt auf dem Weg. Denn nichts hat Dauer, und alle Erfahrungen von Güte, Demut und eigener Baumhaftigkeit im Sinne Rilkes werden abgelöst durch Momente von Kleinlichkeit, Einsamkeit und Überdruss. Es mag einem trainierten Geist möglich sein, die eigenen negativen Impulse zu kontrollieren – verschwinden werden sie nie.
Auch die Ganzheit, die wir berühren, erscheint nicht vollkommen, sondern gebrochen, unstet, widersprüchlich. Und so ist der Modus des Spirituellen die Bewegung des Geistes, der selbst Bewegung ist. Ihre Form ist das Bemühen, während ihr Ziel die Bejahung dieses Bemühens ist.
Spiritualität und Spiritualness
Der Geist ist Leere, die Fülle ist. Er ist der Ort der Teilhabe und der Ganzheit ebenso wie der Ort von Negation und Differenz. Aber vor allem ist er der Raum, in dem diese unendlich ineinander übergehenden Bewegungen stattfinden, Gefäß und Inhalt zugleich. Ist das Gefäß leer, ist die Bewegung fließend und das sich zur Erscheinung Bringende wahrhaftig. Ist das Gefäß voll, sehen wir nicht, was ist, sondern nur, was in uns ist.
Oft ist das ziemlich viel. Wir Menschen besitzen nicht nur positive Kreativität, Phantasie, Vision, sondern auch ein besonderes Talent dafür, an allen möglichen Unsinn zu glauben. Wir hängen in Gedankenspiralen, lassen uns von negativen Gefühlen ablenken oder haben falsche Vorstellungen von uns, den Anderen und der Welt.
Das Hauptanliegen vieler spiritueller Techniken zielt deshalb darauf ab, den Geist von seinen Verkrustungen zu reinigen. Zugleich geht es darum, ihn zur Ruhe zu bringen, das Karussell der Bewusstseinsinhalte zu verlangsamen, zu steuern, und irgendwann anzuhalten. Die christliche Technik der Kontemplation widmet sich der auf die Aspekte des Göttlichen, während die asiatische Zen-Tradition die Fülle im einzelnen Augenblick sucht. Yoga, sansakrit für Sammlung, ist ein hinduistischer Weg, durch Konzentration und Körperbeherrschung auch den Geist zu fokussieren. Und Meditation unterstützt die Praktizierenden dabei, sich die Inhalte des Geistes bewusst zu machen um sie besser steuern zu können.
Dabei fragt sich, ob spirituelle Techniken notwendigerweise zu Güte, Freude und Demut führen. Denn mittlerweile werden fernöstliche Techniken wie Meditation, Yoga und Achtsamkeit nicht mehr nur zur Selbsterkenntnis, sondern auch zur Selbstoptimierung eingesetzt. Managerinnen, die meditieren, um sich besser konzentrieren zu können, leistungsbereite Freelancer, die morgens Yoga machen, um besser durch den Tag zu kommen, Führungskräfte, die Achtsamkeit praktizieren, um verhandlungsstärker zu werden. Solche egoistisch basierten spirituellen Praktiken nenne ich Spiritualness, eine Zusammenziehung von Spiritualität und Wellness. Davon lebt auch eine gewaltige Industrie, die immer ausgefeiltere Produkte anbietet, die das pseudo-spirituelle Erleben unterstützen sollen – von Yogamatten über Amethysttrinkflaschen hin zu Kleidung, Deko und Kosmetik.
“Nie war es leichter, nach Erleuchtung zu duften.”
Nie war es leichter, nach Erleuchtung zu duften. Nie war es schwerer, ihrer teilhaftig zu werden. Und doch bleibt die Frage, ob es nicht trotzdem wirkt. Denn alle spirituellen Techniken, aus welchen Gründen und zu welchen Zwecken sie auch eingesetzt werden, dienen dazu, den Geist entweder zu reinigen oder zu beruhigen. Das Resultat dieser Bewegung ist eine klarere Erfahrung des Eigenen und des Anderen, was vielleicht, aus einer gewissen Eigenlogik heraus, zu einem Mehr an Mitgefühl führt. Oder doch nur zu mehr Leistung und mehr Durchsetzungsvermögen? Es bleibt abzuwarten. Gewiss ist nur, dass alle Beschäftigung mit dem eigenen Geist das Potential hat, ein Gespür für unsere Verbundenheit zu stärken.
Geborgen im Ganzen
Spiritualität beschreibt die Berührungen des Teils mit dem Ganzen als Aufgehobenheit, also als Negation, als Bewahrung und als Erhebung. Resultat dieser dialektischen Bewegung sind Güte und Demut, aber auch Freude und Dankbarkeit. Zugleich laden uns diese Erfahrungen ein, zu staunen: über den Geist, der in unendlichen Schleifen um sich und alles Seiende kreist, über einen Sonnenuntergang am Meer, über eine kleine Hand in einer großen Hand.
Doch es gibt in diesem Leben nicht nur Freude und Dankbarkeit, sondern auch Leid und Sinnlosigkeit, Krankheit und Tod. Spiritualität will nicht nur vom Guten wissen, sondern vom Ganzen. Ihr Wesen ist Bemühen, weil sie anerkennt, dass auch in jedem von uns dieses Ganze ist, und dass wir uns immer wieder neu entscheiden müssen. Und dürfen.
Letztlich steckt in dieser ebenso säkularen wie universalistischen Auffassung von Spiritualität die mit unserem Geist gegebene menschliche Würde: auf unser Dasein zu antworten, uns über unsere Entscheidungen zu verständigen, unsere Werte zu bestimmen und zu leben.
“Spiritualität ist Sorge um den Weltinnenraum.”
Als Teilhabe am Ganzen erschöpft sie sich aber nicht in menschlicher Selbstbezüglichkeit, sondern begreift alle Formen des Lebendigen als Ausdruck des geteilten Seins. Spiritualität ist Sorge um den Weltinnenraum. Ihr gehört die Zukunft, weil sie sich, anders als die Religionen, auf das beruft, was wir alle gemeinsam haben und was zugleich unser Menschsein ausmacht: unseren Geist.
Das Spirituelle in der Kunst ist das Geistige in der Kunst, weshalb Wassili Kandinksy (1912/1952: 26) in seinem gleichnamigen Buch davon spricht, dass „’Verstehen’ die Heranbildung des Zuschauers auf den Standpunkt des Künstlers ist“. Damit berührt Kandinsky zugleich das Wesen spiritueller Verhältnisse: glaube nicht, weil es absurd ist, glaube, weil ich dort gewesen bin und dich einlade, herzukommen und selbst zu sehen.
Diese Hand reichen wir uns schon seit Jahrhunderten. Wir erzählen uns davon, dass es schöner ist zu geben als zu nehmen, dass wir die Natur achten müssen, dass Liebe wächst, wenn wir sie verschwenden. Dass Lesen bildet, Freundschaften gepflegt werden müssen und Kinder gedeihen, wenn man sie gut behandelt.
Hinter diesen Erfahrungen menschlicher Solidarität steht das, was wir erfahren, wenn wir an das Geteilte rühren – ob in der Liebe oder in der Meditation, ob am Meer oder auf einer Parkbank. Hinter ihnen steht der Kontakt mit einer geheimnisvollen Ganzheit, in der wir geborgen sind, wenn auch nicht geschützt. Und es bleibt ein Herzschlag, ein Augenblick: Ja, du lebst, ist das nicht schön?