Museen in der Pandemie: Es ist an der Zeit, Sammlungen (neu) zu entdecken
Zeit des Stillstands – Zeit zur Rückbesinnung? Museen brauchen ein stärkeres Bewusstsein für die eigenen Bestände, aber auch für die Leerstellen, Lücken und Potenziale.
In der Regel stellen Museen nur einen Bruchteil ihrer Sammlungen aus. Obwohl die Sammlungen die räumlichen Kapazitäten der Häuser übersteigen, dominieren Leihgaben und Wechselausstellungen. Nun hat die Corona-Pandemie den globalen Reise- und Leihverkehr logistisch enorm erschwert und wird auch die Kulturlandschaft längerfristig beschäftigen. Institutionen müssen ihre Kosten senken und vorerst ohne internationales Publikum auskommen. Ein produktiver Ansatz zur Lösung dieser Probleme ist die Betrachtung der Ausstellungstätigkeiten. Neben längeren Laufzeiten bietet die Besinnung auf Bestände mehr als eine finanzielle Entlastung. Sie stellt eine Chance für eine neue Sammlungsarbeit dar.
In Anbetracht der erstarkenden rechten politischen Kräfte ist es mir wichtig, dass es nicht um eine nationalistische oder völkische Besinnung auf heimische Kunst geht. Als privilegierte Europäerin, die gerne und viel reist, liegt es mir außerdem fern, Personen, die nicht reisen können, Positionen zu verwehren. Unterdessen sollte es möglich sein durch das Reisen neue Positionen kennenzulernen, beispielsweise in Kanada die Kunst der First Nations.
Ich möchte für eine Vielfalt von künstlerischen Positionen anstatt von Wiederholung des westlichen Kanons plädieren. Mir geht es um ein stärkeres Bewusstsein für die eigenen Sammlungen, die Leerstellen, Lücken und Potenziale – um die Erwägung, Sammlungswerke auszustellen. Ein Beispiel für die produktive Betrachtung eines Sammlungsbestands und Ergänzung um Leihgaben ist Mapping the Collection (Museum Ludwig Köln, 2020).
“Sich auf die eigene, unverwechselbare Sammlung zu konzentrieren, bedeutet die Chance, das Profil der Institution zu schärfen und ein Alleinstellungsmerkmal zu schaffen.”
Mit Blick auf die Besuchendenzahlen braucht es anfangs Mut, berühmte Namen bewusst auszusparen und unbekannte Werke von Künstler:innen auszustellen. Doch sich auf die eigene, unverwechselbare Sammlung zu konzentrieren, bedeutet auch die Chance, das Profil der Institution zu schärfen und ein Alleinstellungsmerkmal zu schaffen.
Prof. Johannes Vogel, Direktor des Museums für Naturkunde Berlin, äußerte Ende 2020 in ICOM Deutschland – Mitteilungen: „Es ist immer eine Abwägung: konkurriert man mit Disney um Besucher oder mit der Max-Planck-Gesellschaft um Forschungsgelder. Einen goldenen Weg gibt es hier nicht. Ich glaube aber, dass es langfristig und nachhaltig wichtig sein wird, dass Museen sich wieder auf ihre Kernaufgaben besinnen: sammlungsbezogene, relevante Forschung mit und für die Gesellschaft.“
In Pandemiezeiten ist der Besuch zudem auf Institutionen am Wohnort und auf Tagesausflüge beschränkt. Prof. Dr. Christoph Grunenberg aus der Kunsthalle Bremen. Der Kunstverein beschreibt im Angesicht der Pandemie und den Reisebeschränkungen diese Verschiebung: „Wir müssen uns auch wieder auf unsere eigene Umgebung besinnen, dort wo wir leben, […] dort wo unser eigenes Museum ist, dort wo unsere eigene kulturelle Geschichte zu sehen ist.“ (Aus dem Instagram-Talk „Was macht Corona mit unseren Museen?“) In der neuen Dauerausstellung seiner Institution wird unter anderem die Kolonialgeschichte (in) der Sammlung der Hansestadt prominent thematisiert.
Teilhabe, Emanzipation und Nachhaltigkeit
Wenn sich Institutionen auf die eigenen Sammlungen fokussieren, bedeutet das, dass dieser Arbeit mehr Aufmerksamkeit zukommt. Sammlungen können und müssen befragt werden: Wer sammelt? Was wird gesammelt? Nach welchen Kriterien wird gesammelt? Was wird nicht gesammelt?
Die Befragung und Neuerstellung von Sammlungskonzepten sollten relational geschehen. Eine echte Teilhabe durch Wissensproduktion der Besucher:innen, Communities und diversen Museumsteams relativiert die Deutungsmacht der Institutionen. Die Arbeit mit Lücken und Leerstellen erstarkt durch zeitgenössische Auftragsarbeiten, partizipative, feministische, empowernde, anti-akademische, anti-rassistische und anti-kapitalistische Befragungsmethoden. Sammlungen können sich von statischen Dauerausstellungen emanzipieren, um neue Perspektiven und Erzählungen und aktuelle Bezüge zu entdecken. Möglich sind Führungen zu zeitgenössischen Themen wie beispielsweise Menschenrechte, Migration oder Frauen in der Kunst in Zusammenarbeit mit Expert:innenorganisationen.
“Anstatt kurzsichtig auf Zahlen zu schauen, sollte begonnen werden, nachhaltig zu arbeiten.”
Zusätzlich zu der Einbettung in eine spezifische Lokalität, einer Diversifizierung künstlerischer Positionen und erhöhter Kosteffizienz hilft eine geringere Leihtätigkeit der Ökobilanz. Das Bewusstsein für klimabewusstes Arbeiten kommt nur langsam bei der Breite der Kulturinstitutionen an. Das Lenbachhaus in München fragt sich erst Anfang 2021 in dem Pilotprojekt Klimabilanzen in Kulturinstitutionen der Kulturstiftung des Bundes wofür Treibhausgase verursacht werden: “Welche Werke sollen reisen? Welche Ideen liegen den Ausstellungen zugrunde und müssen in internationalen Kooperationen entwickelt werden, welche nicht?“ Abgesehen vom Verzicht gibt es die Option, (nicht reisefähige) Werke durch Faksimile oder Techniken wie Virtual Reality zu ersetzen.
Die Abkehr vom bekannten Kanon wird mit einem Einbruch von Besuchendenzahlen assoziiert. Durch die Corona-Krise sind die Zahlen allerdings bereits massiv geschrumpft. Anstatt also kurzsichtig auf Zahlen zu schauen, sollte begonnen werden, nachhaltig zu arbeiten. Bedenkt man, dass Sammeln – neben Forschen, Bewahren und Ausstellen – eine Kernaufgabe des Museums ist, verwundert es, wie wenig oft aus den Depots zu sehen ist. Der Kunst- und Kulturbetrieb sollte nie ausschließlich lokal agieren. Doch bevor in anderen Häusern nach möglichen Leihgaben geschaut wird, lohnt eine bewusste Betrachtung der eigenen Bestände.
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[Title Image by Bahman Adlou via Unsplash]