„Mir geht es darum, die Würde des Menschen auch während der Autopsie zu bewahren“: Ein Gespräch mit Judith Brauneis
Judith Brauneis hat einen ungewöhnlichen Job: Als Leichenpräparatorin und Notfallseelsorgerin kümmert sie sich um Tote und ihre Angehörigen. Zum „Trauerkloß“ sei sie aber trotzdem nicht geworden. Wie ihr das gelingt – und vieles mehr – erzählt sie im Interview mit Eckhard Frick.
Das vorliegende Interview erschien erstmalig am 22.02.2022 unter dem Titel “Sorge für die Verstorbenen des Klinikums und für die Trauernden” in der Zeitschrift Spiritual Care.
Viele Menschen fürchten die Begegnung mit dem Sterben, doch sie hat in der Totenfürsorge Beruf und Berufung gefunden: Judith Brauneis ist Chefpräparatorin und Notfallseelsorgerin am Klinikum Rechts der Isar in München. Dort betreut sie seit mehr als 20 Jahren sowohl Verstorbene als auch ihre trauernden Angehörigen. Unter dem Pseudonym „Frollein Tod“ veröffentlichte sie im riva-Verlag vor kurzem ihr erstes Buch: „Im Himmel gibt’s Lachs“.
Woher stammt ihre Faszination für den Tod? Wie unterstützt man Angehörige am besten? Haben Kinder etwas bei der Aufbahrung zu suchen? Und wie behält man seine Lebensfreude in ständiger Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit?
All das und mehr wollte der Psychiater und Psychoanalytiker Prof. Dr. med. Eckhard Frick SJ von Judith Brauneis erfahren. Dafür traf er sie zu einem spannenden Gespräch an einem eher ungewöhnlichen Ort: dem Sektionssaal der TU München.
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Eckhard Frick: Tote werden für gewöhnlich „entsorgt“, wie man so sagt. Bei der Lektüre Ihres Buches fiel mir auf: Sie kümmern sich um tote Mitmenschen und Sie haben die Totenfürsorge zu Ihrer Berufung gemacht, schon als Jugendliche.
Judith Brauneis: Ja, das stimmt. Also, es hat ein bisschen gedauert, eigentlich sogar viele Jahre bis ich dahinterkam, dass es nicht nur mein Beruf ist, sondern meine Berufung. Aber als ich es dann erkannt hatte, da war das so befreiend für mich, da wusste ich endlich, wozu ich da bin. Oder wozu mein Leben gut ist, was der Sinn ist in meinem Leben. Man ist ja doch auf Sinnsuche, und als ich es dann verstanden hatte, habe ich mich frei gefühlt und glücklich. Und dann wusste ich, was zu tun ist. Und dann konnte ich noch mehr Herzblut hineinstecken. Dafür musste ich aber erst durch viele Jahre gehen und auch durch Trauer gehen, um das zu verstehen.
EF: Auch durch die eigene Erfahrung von Trauer?
JB: Ja.
EF: Um dann auch zu verstehen, wie es Menschen geht, die Abschied nehmen müssen…
JB: Ja. Natürlich versteht man, wenn Leute traurig sind, aber diese Art von Trauer, die Hinterbliebene erleben, ist etwas anderes und ich musste meine eigene Trauer erfahren, die über Jahre gedauert hat. Ich musste die Trauer durchleben und überwinden, damit ich dann diese Verbindung herstellen konnte zu den Leuten, die ich betreue. Als ich das dann konnte, hatte das eine ganz andere Qualität bekommen für mich und hoffentlich auch für die Trauernden, die dann im besten Fall spüren, dass ich weiß, wie das ist und, dass ich alles ernst meine.
EF: Der Volksmund sagt ja, „Spaß muss sein, sonst geht keiner mit der Leich‘“ und meint damit: Der Abschied, die Bestattung und alles drum herum ist irgendwie gelungen. Ihr Buch ist keineswegs nur tieftraurig, sondern auch ziemlich humorvoll. Wie geht das denn beides zusammen, Humor und Sich-kümmern um tote Menschen?
“Ich versuche, mir meine Heiterkeit und Leichtigkeit zu bewahren. Sonst könnte ich nicht leben.”
JB: Man darf natürlich seinen Humor nicht verlieren oder seine Heiterkeit. Aber ich differenziere da schon klar, dass ich mich nie über Verstorbene lustig mache. Wenn es seltsame Situationen gibt, vielleicht mit Bestattern oder etwas Skurriles mit Studenten oder mit Angehörigen: Dieser Humor oder diese Leichtigkeit richten sich nicht auf die Verstorbenen oder die Trauernden. Aber ich versuche, mir meine Heiterkeit und Leichtigkeit zu bewahren. Sonst könnte ich nicht leben, dann wäre ich ein Trauerkloß und das bin ich nicht.
EF: Medizin-Studierende nutzen ja häufig den Humor, um zu bewältigen, was sie tun, schon im Präparierkurs, um damit umzugehen, dass sie da an toten Menschen arbeiten. Worauf achten Sie im Kontakt mit den Studierenden oder Praktikanten?
JB: Am Anfang habe ich diese Lustigkeit der Studenten total verstörend empfunden, und gedacht: „Was ist denn mit denen los? Das ist doch hier total traurig hier. Wie können die denn so locker sein?“ Dabei war ich die Unlockere in dem Moment, weil ich auch ein bisschen Erfahrung brauchte, um das zu verstehen. Es ist ja Unsicherheit. Ich sehe das jeden Tag. Für mich ist das normal. Aber für die jungen Studenten ist das überwältigend.
EF: Die müssen mit der Unsicherheit auch irgendwie umgehen.
JB: Genau. Als ich das dann verstanden hatte: Sie sind ja gar nicht so seltsam, sondern: Sie sind unsicher und wissen gar nicht, was sie tun sollen und wollen vielleicht auch uns gefallen. Da habe ich dann gedacht: „Du musst ihnen was beibringen.“ Ich sehe mich nicht in der Aufgabe, sie irgendwie fachlich zu unterrichten. Dafür sind unsere Ärzte da. Mir geht es eher darum, nicht zu vergessen, dass da ein Verstorbener liegt. Dass das immer noch ein Mensch ist. Vielleicht auch, wenn er im Moment zum Objekt degradiert wird, bei der Autopsie zum Beispiel: Dann sollten wir nicht vergessen, dass dieser Mensch eine Leidensgeschichte hatte. Er hat viel durchgemacht. Er ist verstorben. Es ist ihm etwas Schlimmes passiert, eine schlimme Krankheit und es gibt auch Trauernde, die ihn vermissen werden. Mir geht es darum, die Würde des Menschen gerade auch während der Stunden der Autopsie zu bewahren. Die Studierenden sollen sich später als Ärzte und Ärztinnen daran erinnern, dass sie sich Zeit nehmen, gerade für Sterbende und Trauernde, auch wenn das schwer ist auf Station, weil man keine Zeit hat, viel zu tun, aber dass man sich das bewahrt, die Menschlichkeit bewahrt und dass man noch emotional bleibt, weil man verstehen muss, dass auch Angehörige in großer Not sind.
EF: Wenn der Volksmund sagt: „eine schöne Leich’“, alles hat gepasst, Bestattung und hinterher Leichenschmaus oder auch das Schiw‘a-Sitzen in der jüdischen Tradition. Es gibt Trauer-Rituale, gerade in den Religionen. „Schöne Leich‘“, was ist das für Sie? Zunächst einmal ist der Tod ja durch Kälte und durch Krankheit etwas Hässliches, aber was ist für Sie Schönheit bei einem Leichnam?
JB: Ich würde sagen, es ist die Würde, die der Verstorbene noch ausstrahlt, seine Friedlichkeit. Es ist überhaupt nicht so, dass Tote entstellt aussehen müssen, mit verzerrtem oder im Moment des Todes erstarrtem Gesicht. Sie schauen eher friedlich aus. Wenn ich die Verstorbenen zurechtmache, muss ich gar nicht viel tun. Wichtig ist einfach nur, dass sie sauber sind, gut abgedeckt und in einem schönen Rahmen gezeigt werden können. Ich finde, da braucht es gar nicht viel. Es muss nur einfach würdig sein. Und ja, ich finde, die Schönheit kommt von dem Menschen, der er ist. Und für die Angehörigen ist es ja immer noch der Opa, der verstorbene Vater. Das ist nicht die Leiche, wie für mich. Deswegen will ich mich gar nicht anmaßen zu sagen, was ist schön und was nicht. Das ist der schöne Verstorbene und man sieht ihn mit den Herzen. Es ist überhaupt nicht objektiv, was die Angehörigen wahrnehmen.
EF: Was tun Sie denn, wenn Sie den Eindruck haben, da ist eine Entstellung, gerade im Gesicht oder an den Händen? Wie gehen Sie damit um? Da ist jetzt möglicher Weise etwas Entstellendes, aber es ist trotzdem wichtig, dass die Angehörigen begreifen können, wirklich berühren können und schauen können.
“Wenn es schlimm wird, dann bin ich da.”
JB: Also, ich tue, was ich kann. Ich entferne mal einen Tropfen Blut, der noch am Gesicht ist oder Flüssigkeiten, die austreten. Ich mache den Verstorbenen zurecht, indem ich ihn kämme, die Hände drapiere, schön abdecke, mit einer hübschen Decke, einem schönes Kissen. Manchmal denke ich auch, mhm, vielleicht sieht das nicht so gut aus… Aber ich überlege zugleich, das ist ja meine Wahrnehmung. Was weiß denn ich schon, was die Familie schön findet? Und ich bin auch mutig: Die Angehörigen kommen, um ihn zu sehen. Wir haben vorher ein Gespräch. Ich kann sie vorbereiten. Und ich denke immer, man kann über alles sprechen. Z.B. kann ich einen zentralen Venenkatheter am Hals nicht entfernen, weil es stark bluten würde. Wenn ich dann gefragt werde, warum ich das denn nicht gemacht habe, dann sage ich: Das ist keine Nachlässigkeit von mir, sondern: Wenn ich ihn ziehe, dann blutet das. Also, dann sage ich, wie das ist. Ich biete aber auch an, ihn zu ziehen, wenn es ihnen wichtig ist. Und ich denke, ich kann es ihnen zumuten, weil ich auch da bin. Wenn es schlimm wird, dann bin ich da. Wir können darüber sprechen und ich kann sie auffangen. Und man kann das besprechen.
EF: Sie sind bei den Trauernden. Sie sind nicht nur zuständig für den toten Menschen, sondern Sie gehen mit hinein. Sie sind ansprechbar für die Angehörigen.
JB: Ja. Im besten Fall spreche ich schon vorher mit ihnen am Telefon, dass ich sie vorbereiten kann, ich treffe sie, bevor wir zusammen hier reingehen. Ich verspreche immer, dass wir das zusammen machen. Und, dass man mir ein Signal geben kann, wenn sie unter sich sein möchten. Dann bleibe ich in der Nähe, bin sofort da, wenn sie mich brauchen.
EF: Transport einer Leiche und Aufbahrung und Sektion und Bestattung, das sind sehr materielle Dinge: Da wird beobachtet, da wird gesägt und geschnitten usw. Was mich jetzt interessiert, ist der spirituelle Aspekt. Inwieweit hat das auch mit Spiritualität zu tun?
JB: Die Spiritualität, die ich erlebe, hängt mit den Dingen zusammen, an die ich glaube, z.B. dass die Verstorbenen einen noch besuchen kommen. Das kommt aus meiner eigenen Erfahrung, die ich gemacht habe, weil meine Großeltern bei mir waren, um mich zu trösten, als sie gestorben sind. Und dann habe ich natürlich begonnen, daran zu glauben und habe mir meine eigenen Gedanken gemacht und habe gedacht: „Ja sind sie denn vielleicht hier, die Verstorbenen? Die Seelen der Verstorbenen oder die Geister oder wie man das nennt. Sind sie denn hier? Und habe halt überlegt: „Na, was sollen sie denn hier, was sollen sie denn bei ihren Körpern? Und habe gedacht: „Nee, wenn ich sterbe, wo gehe ich dann hin? Ich gehe gucken, wie es meinen Hinterbliebenen geht, ob die zurechtkommen“. Wenn die Angehörigen kommen, möchten sie sich unterhalten, manchmal auch philosophieren. Und dann ist es einfach nur wichtig, dass man ihnen etwas Tröstendes sagt. Ich kann ihnen nicht einfach etwas aufdrängen oder z.B. sagen: „Der Opa kommt bestimmt noch gucken!“. Man muss hören, was die Leute glauben.
EF: Und was ist dann das Tröstliche?
JB: Das Tröstliche ist die Hoffnung. Also, zu sagen, dass alles gut wird. Dass sie wissen, dass sie nicht alleine diesen Weg gehen müssen und dass ich es für einen sehr traurigen Gedanken halte, wenn dann Schluss wäre. Ich meine, ich weiß es nicht, aber ich möchte nicht glauben, das ist das Ende.
EF: Ja, wir haben alle unsere Überzeugungen, Hoffnungen, unsere Vorstellungen bezüglich des Todes die sehr verschieden sind. Was mich sehr beeindruckt, sind Träume, in denen meine verstorbenen Eltern vorkommen. Sie sind schon seit 16 Jahren tot. Aber wenn ich im Traum mit ihnen im Auto sitze, irgendwo hingehe, irgendetwas unternehme, etwas mit ihnen zusammen erlebe, dann sind sie ganz präsent. Insofern leuchtet mir ein, was Sie über die Präsenz der Toten sagen. Der spirituelle Aspekt ist eine Präsenz von Menschen, die im physischen, medizinischen, biologischen Sinn tot sind. Trotzdem sind sie nicht einfach nur abwesend, sondern sie bedeuten etwas in unserem Leben.
Ursprünglich haben Sie ja die Ausbildung als Präparatorin gemacht. Und dann haben Sie – das finde ich etwas Besonderes – sich mit Trauerbegleitung beschäftigt: Begleitung ganz im wörtlichen Sinn, Sie gehen mit zur Aufbahrung. Was würden Sie empfehlen, wie das in einem Krankhaus ganz allgemein ablaufen sollte mit dem Abschied, wenn jemand gestorben ist?
JB: Ich finde es total wichtig, ihn möglich zu machen und ich finde es auch wichtig, den Angehörigen nicht davon abzuraten, nur, weil ich gerade der Meinung bin, der Leichnam sehe nicht vorzeigbar aus. Also, das obliegt eigentlich niemanden, so etwas zu behaupten. Man pflanzt dann schlechte Gedanken, und die Leute stellen sich etwas ganz Schlimmes vor, was dann vielleicht nicht ist. Also, ich bin dafür, das immer möglich zu machen. Und ich finde auch, man sollte keine Angst davor haben, dass man sagt: Ich kann das nicht, ich trau‘ mich das nicht. Ich würde jedem zuraten, das zu tun. Ich würde vor allem die Leute unterstützen, weil sie in größter Not sind in ihrer Trauer. Man muss da keine Angst haben, dass man das nicht schafft oder nicht kann. Die Menschen erwarten ja keine Wunder. Sie müssen nicht alle umarmt werden, sondern einfach unterstützt werden, indem ich Rat weiß oder Ansprechpartner benennen kann oder einfach eine Telefonnummer weiß, die man anrufen kann. Unterstützung in jeder Art muss nichts Besonderes sein. Und man kann durchaus für die Verstorbenen noch etwas tun, indem man sie umsorgt. Indem man sie gut herrichtet, gut übergibt und sie beschützt in dem Sinne.
“Jeder trauert anders und die Trauer der Kinder ist besonders.”
EF: Es gibt einen Satz, der oft gesagt wird, trotzdem aber ziemlich falsch ist, in Bezug auf Kinder: Kinder sollen die Verstorbenen so in Erinnerung behalten, wie sie waren und Kinder sollen nicht mit Toten in Verbindung kommen. Wie gehen Sie mit Kindern um?
JB: Kenne ich auch. Ich durfte zu meiner Uroma auch nicht. Da spielt auch meine eigene Erfahrung mit rein, weil ich habe sie total geliebt und ich durfte nicht mit zu diesem Abschied. Ich habe es nicht verstanden. Das hat man früher nicht so gemacht. Und das war so ein Punkt, der mich beeinflusst hat, weil ich nicht verstanden habe, warum ich nicht zu meiner Oma darf. Und deswegen…
EF: …Wie alt waren Sie da, wenn ich fragen darf?
JB: Da war ich 6. Und deswegen habe ich mich viel mit der Trauer der Kinder beschäftigt, weil die Angehörigen natürlich fragen: „Dürfen die denn mitkommen?“ Und auch hier bin ich dafür, sofern das Kind das denn möchte. Wenn das Kind das möchte, sollte man darüber nachdenken. Und da muss man einfach ein paar Dinge wissen… Sehr kleine Kinder bis 3 Jahre verstehen das noch nicht. Sie verstehen den Tod noch nicht.
EF: Sie haben kein Konzept vom Tod. …
JB: …Nein. Haben sie nicht. Später dann schon, da haben die Kinder vielleicht die Vorstellung, dass der Opa, wenn er im Sarg liegt und es regnet, vielleicht nasse Füße kriegt oder so. Die haben eine Vorstellung vom Jenseits und vom Himmel. Ich habe erlebt, dass die Kinder uns sogar beibringen, dass wir keine Angst vor dem Verstorbenen haben müssen. Sie gehen direkt zum Verstorbenen. Für sie ist es immer noch die verstorbene Oma. Sie scheuen sich nicht. Die fassen sie an und sie sprechen mit denen, während wir uns fürchten. Wichtig ist, dass man dem Wunsch des Kindes entspricht und wichtig ist, dass jemand da ist, der sich um das Kindchen dann kümmern kann, wenn es nicht mehr bleiben will. Und die Kinder sind sehr tapfer. Also, sie trösten ihr Eltern. Ich habe gesehen, wie sie die Tränen der Mutter getrocknet haben und gestreichelt haben und das einfach super gut machen. Und die Kinder können ihre Trauer auch ausdrücken, wenn sie nicht sprechen wollen, dann können sie es künstlerisch ausdrücken.
EF: Können z.B. etwas malen …
JB: … Malen, über Musik, über alle möglichen Sachen und sie können auch umschalten: Jetzt haben sie gerade noch geweint und dann spielen sie. Und das muss man verstehen. Jeder trauert anders und die Trauer der Kinder ist besonders. Deswegen bin ich dafür. Aber letztendlich muss man respektieren, was die Eltern dann entscheiden.
EF: Was raten Sie denn den Eltern, wenn die Eltern hin- und hergerissen sind? Sollen wir die Kinder mitbringen oder nicht?
JB: Ich rate ihnen zu. Ich sage ihnen auch, schauen Sie, dass dann jemand da ist, der sich um das Kind kümmert, wenn es gehen möchte. Und sprechen Sie mit dem Kind, denn das Kind lernt dann Teil einer Gemeinschaft zu sein. Es fühlt sich nicht ausgegrenzt. Und das Kind sieht, dass es durchaus in Ordnung ist, wenn man traurig ist, es sieht, dass man weinen darf, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Es lernt ja dadurch. Und ich erzähle dann eben auch von mir, dass ich total böse war auf meine Familie, weil ich nicht mitgehen konnte und weil ich es ihnen lange nachgetragen habe.
EF: Ich hätte gerne einen Rat von Ihnen für mich als Hochschullehrer. Ich halte jedes Semester ein Seminar in der Rechtsmedizin über das Thema: „Was fürchten wir am Tod?“ Das sind erwachsene junge Leute, Medizin-Studierende. Wie würden Sie mit der Frage umgehen: „Was fürchten wir am Tod?“
“Wenn es soweit ist, ist es soweit. Aber bis dahin muss man es sich schönmachen.”
JB: Ich würde mir überlegen, was ich fürchte. Also, ich fürchte den Tod nicht. Aber ich glaube, die Leute fürchten ihn, weil man nicht weiß, was kommt. Oder weil vielleicht die Vorstellung, die man hat, dann nicht erfüllt wird. Also, viele hoffen ja, ihre Angehörigen wiederzusehen, dass man abgeholt wird, dass es eine große Wiedersehensfreude gibt und dass man dann glücklich ist. Und, dass man dann enttäuscht wird und man fürchtet sich vor dem Nichts. Dass da nichts mehr kommt. Aber ich denke, man sollte sich nicht so viele Gedanken darum machen, den Tod zu fürchten, sondern man sollte lieber leben und jeden Tag zu etwas Gutem machen und den Tag gut beenden. Und nicht so viel an den Tod denken. Wenn es soweit ist, ist es soweit. Aber bis dahin muss man es sich schönmachen. Würde ich sagen.
EF: Lebendig sein. Dieses Wort „spirituell“ ist ja ein Fremdwort. Im Französischen ist “esprit“ und „spirituel“ auch das Geistreiche und das Witzige.“Mot d’esprit“ heißt Witz… Wie behalten Sie Ihre Lebendigkeit, diese Lebensfreude und das Spirituelle innerhalb Ihres Berufes? Das ist ja auch eine Frage des Gesundbleibens und des Wachbleibens und Sensibel-Bleibens.
JB: Sie haben es schon gesagt. Ich versuche, wach zu bleiben. Und ich versuche, die Momente zu erfassen, weil ich weiß ja, aufgrund meiner Arbeit, dass es im nächsten Moment vorbei sei kann. Und ich versuche, mir mein Leben schönzumachen und im Moment zu sein und den auch zu genießen.
EF: In der Gegenwart zu leben.
JB: In der Gegenwart. Absolut. Und es befriedigt mich, wenn ich Menschen treffe, mit denen ich mich toll unterhalten kann oder, wenn ich helfen kann, ja vor allem helfen. Gerade die Trauerbegleitung ist für mich etwas, wo ich dann sage: Diesen Tag habe ich genutzt, ich habe jemandem geholfen. Und, ja, ich schalte ab, wenn ich nach Hause gehe, ist Schluss. Dann denke ich nicht mehr viel über die Arbeit nach. Und ich schaue immer, dass es mir gut geht. Ich lebe gar nicht gesund. Das wäre echt gelogen. (lacht). Ich lasse es eher krachen.
EF: (lacht).
JB: Aber, wie gesagt, ich denke, wenn es soweit ist und ich sterben muss, dann ist das so, aber bis dahin habe ich den Moment genutzt und gelebt. Ja, ich habe viel Liebe zu geben und ich brauche auch viel Liebe, aber viel mehr habe ich einfach zu geben. Und überhaupt, ich überhäufe die Leute, die ich gerne habe, mit netten Worten und Liebe und Zärtlichkeit und ich gebe viel, und das macht mich glücklich. Und darin, ja, besteht mein Lebenssinn. Zu geben und zu schenken und zu lieben. Ich habe das Gefühl, dass alles zurückkommt. Gerade, wenn man es nicht erwartet.
EF: Liebe Frau Brauneis: Ich möchte mich sehr bedanken für so viel Lebendigkeit in diesem Institut, wo Sie sich um die Verstorbenen des Klinikums kümmern.
[Title image by Max Oppenheim/The Image Bank/Getty Images