Geschichte digital: Zehn Herausforderungen

Geschichte von gestern? Von wegen! Der digitale Wandel stellt die Geschichtswissenschaft auf die Probe – aber er bietet auch Chancen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch “Geschichtswissenschaft im 21. Jahrhundert – Interventionen zu aktuellen Debatten “.

Richtungsstreits über Quellen, Methoden und Fragestellungen sind in der Geschichtswissenschaft nichts Neues. Vielmehr prägen sie die Entwicklung des Fachs seit seiner Professionalisierung im 19. Jahrhundert. In Abfolgen von Themensetzungen, Trends und Turns werden dabei ältere Formen der Wissensgenerierung und Schlaglichtsetzung nie vollständig durch neue ersetzt, auch wenn Forschungsergebnisse revidiert werden. Vielmehr ergänzen neue Methoden, Fragestellungen und Quellen genau wie das damit einhergehende neue Vokabular das Fach und führen zu einer belebenden Pluralisierung von Geschichtsforschung, ihren Ergebnissen und deren Verbreitung.

Dies trifft in Teilen auch auf die digitale Transformation zu, die seit mehreren Jahren nicht nur auf Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft, sondern auch auf Forschung und Lehre einwirkt. Doch ist sie mehr als ein bloßer inhaltlicher oder methodischer Turn. Vielmehr stellt sie ganz grundlegend die Art und Weise in Frage, wie in der Geschichtswissenschaft Wissen geschaffen, bewertet, gelehrt, kommuniziert und publiziert wird. Mit der Akzeptanz dieser Änderungen sowie der Professionalisierung der eigenen digitalen Praktiken tun sich Historiker*innen gegenwärtig schwer, zum Schaden des Fachs und zum Nachteil des Nachwuchses. Denn es besteht dringender Handlungsbedarf, allein schon, um auch zukünftig Quellen mit der notwendigen Gründlichkeit finden, bewerten und analysieren zu können.

Dieser Beitrag zeigt zehn Herausforderungen auf, die der digitale Wandel an uns und unser Fach stellt. Gemeinsam ist ihnen, dass es sich zugleich um Chancen handelt, die disziplinäre Wissenschaftskultur konstruktiv zu durchdenken und die Relevanz der Geschichtswissenschaft für die Gesellschaft neu zu definieren.

1 Digitale Transformation des Fachs anerkennen und kritisch gestalten

Der digitale Wandel ist kein singuläres Ereignis, sondern ein langer und anhaltender Prozess, der weder stets rasant und linear verlief noch zukünftig so verlaufen wird. In der Geschichtswissenschaft gehen die Anfänge der computergestützten Forschung auf die frühen 1960er Jahre zurück, als in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in großem Stil Daten verarbeitet und komplexe Modelle menschlichen Handelns entwickelt wurden. Als quantitative Geschichte oder Cliometrics löste sie damals bereits einen ähnlichen Abwehrreflex aus, den die digitale Geschichte heutzutage erfährt. Es waren technische Neuerungen, die dafür sorgten, dass sich Alltag, Kultur, Berufsleben und mithin die Welt der Geschichtsforschung in den letzten 40 Jahren erheblich verändert haben: Zu nennen sind in erster Linie die Einführung von PCs seit Mitte der 1980er Jahre sowie die rasante Verbreitung des Internets ab den frühen 1990er Jahren. Mit Bibliothekskatalogen, Datenbanken, massenhaft digitalisierten Quellen und Artefakten, Editions- und Publikationsplattformen, digitalen Analysetools sowie den Möglichkeiten zu Austausch, Vernetzung und Selbstpublikation ist das Web zu einem zentralen Ort der historischen Forschung geworden.

Diese hier nur angedeuteten Entwicklungen sind zu tiefgehend, als dass die Geschichtswissenschaft ihnen mit einer ablehnenden oder vermeidenden Haltung begegnen kann. Denn die Rahmenbedingungen der Wissensproduktion sind digital geworden und von Algorithmen geprägt. Zum einen ist die Verankerung der Geschichtswissenschaft in der Gegenwart zentral, wenn sie nicht nur nostalgische Neugierde bedienen, sondern zum Verständnis der aktuellen Welt beitragen möchte. Zum anderen beeinflusst die Arbeit mit digitalen Quellen, Werkzeugen und Infrastrukturen die Art und Weise, wie Historiker*innen Geschichte denken und folglich auch, wie sie historischen Sinn produzieren. Die Anerkennung dieses Wandels ist gleichsam die Grundlage für die Professionalisierung der eigenen digitalen Praktiken und dafür, die Transformation nicht nur zu erleiden, sondern aktiv zu gestalten und die epistemologischen Änderungen zu reflektieren.

2 Digital Literacy lernen

Informiertes und kompetentes Forschen im digitalen Raum will gelernt sein. Unter dem Schlagwort Digital Literacy werden methodisch fundierte Kenntnisse zusammengefasst, die heutzutage alle Historiker*innen benötigen. Sie betreffen Suchen, Bewerten und Verwenden von digitalisierten Primärquellen, Sekundärliteratur und Medien, rechtliche und ethische Kenntnisse sowie die kritische Bewertung von Online-Angeboten.

Zentral ist das Beherrschen einer „Heuristik des Suchens“. Denn für die Forschungsergebnisse sind die Suche und das, was sie zutage fördert und was sie im Dunkeln lässt, ganz entscheidend. Auch wenn einfache Suchschlitze den schnellen und umfassenden Zugang auf Milliarden von digitalen Volltexten, Objekten und Datensammlungen ermöglichen: Sie überdecken die methodischen Fallstricke und Einschränkungen und blenden aus, dass Suchmaschinen stets zugleich Vermittler sind mit spezifischen Möglichkeiten und Beschränkungen, die es zu kennen gilt.

Zur Digital Literacy gehören ebenso die Kompetenzen, retrodigitalisierte von born digital-Quellen und bibliographische Online-Datenbanken von Publikationsplattformen zu unterscheiden sowie Online-Sammlungen methodisch zu durchleuchten: Jede digitale Sammlung stellt eine Auswahl dar. Zusammen mit der Präsentation über eine Weboberfläche, deren Schrift, Farben und Möglichkeiten des Zugriffs bedeutet diese Auswahl ein inhaltliches Argument. Andere Fragen als bei der Lektüre von gedruckten Büchern sind notwendig: Suche ich im Volltext oder in den Metadaten? Welche Algorithmen bestimmen die Reihenfolge der Suchergebnisse? Bleiben diese gleich? Wie zitiere ich die digitale Quelle? Wie und unter welchen Bedingungen darf ich diese weiterverwenden?

Ebenso wird angesichts der schieren Masse an online vorhandenen Digitalisaten leicht übersehen, dass in Europa bisher lediglich rund 4 Prozent der Sammlungen von Gedächtnisinstitutionen digitalisiert wurden. Online zu finden sind vor allem textbasierte Quellen aus dem globalen Norden, mit einem Fokus auf die Nationalgeschichte. Dies hat bereits jetzt nachgewiesenen Einfluss auf die Themensetzung in der Geschichtsforschung. Nur etwas über die Hälfte der Digitalisate ist mit standardisierten Metadaten ausgezeichnet. Sich ausschließlich auf eine Volltextsuche zu verlassen, die je nach OCR-Qualität vielfach weniger als die Hälfte aller Wörter erkennt, ist daher „Roulette als Wissenschaft getarnt“ und hat mit methodischer Gründlichkeit nichts zu tun.

Bei der Arbeit mit Digitalisaten besteht zudem die Gefahr eines Kontext-Kollapses, etwa wenn Suchergebnisse nicht ausreichend kontextualisiert werden. Eine Diskussion in der internationalen Geschichtsforschung warnt vor einem Trend, Einzelsuchergebnisse aus der weltweit digitalisierten Tagespresse ohne Berücksichtigung ihres geographischen, politischen und historischen Kontextes als bloße Zitatsammlung für eine bereits feststehende Argumentation zu verwenden.

3 Digitale Praktiken benennen

Historiker*innen müssen digitale Praktiken nicht nur von Grund auf erlernen. Sie müssen sie vor allem benennen und transparent machen, damit Forschungswege und -ergebnisse nachvollziehbar sind. Auch erhalten nur so die verwendeten Volltext- und Objektsammlungen, Editionsprojekte, Datenbanken und Werkzeuge ihre verdiente Anerkennung.

Tim Hitchcock hat darauf verwiesen, wie sehr wir Gefangene unserer eigenen überholten Praktiken sind: Wir lesen Journal-Aufsätze online, zitieren aber die gedruckte Ausgabe; wir durchsuchen Quellensammlungen mit Stichwörtern, und tun dabei so, als ob wir die Druckfassung vollständig durchgesehen hätten; wir suchen in Google-Books nach Snippets, und tun so, als täten wir es nicht. Schwerwiegend ist dabei nicht nur das Verheimlichen der digitalen Praktiken, sondern das häufig damit verknüpfte Übersehen methodischer Fallstricke, etwa im Hinblick auf Fehler bei der Texterkennung.

Um die zahlreichen namenlosen digitalen Praktiken an die Oberfläche zu holen, sichtbar zu machen und zu benennen, benötigen wir neue Erzählungen über das wissenschaftliche Arbeiten im digitalen Raum, neue Meistererzählungen der digitalen Praktiken.

4 Born digital-Quellen und die Arbeit der Archive verstehen

Ein immer wichtiger werdender Teil der sozialen Interaktion findet heute im Netz statt und hinterlässt dort Spuren: Tweets, Blogs, Computerspiele, Mailinglisten, Websites etc. sind potentielle Quellen, die menschliches Verhalten spiegeln. Schon in vier bis fünf Jahren kommen wir diesbezüglich in eine „digitale Sintflut“, während wir aktuell nur die Zehen im Wasser haben. Auch die in Archiven aufbewahrte historische Überlieferung ist mit elektronisch geführten Akten und Schriftverkehr born digital geworden. Diese Quellen sind multimodal und multidimensional, sie erlauben Interaktion, Veränderungen, Korrekturen oder das Löschen. Damit müssen bisherige Konzepte des „Originals“ und der „Authentizität“ überdacht und Kriterien für eine digitale Quellenkritik erarbeitet werden.

Bei der Archivierung des Onlinewebs bestehen die Herausforderungen neben Zuständigkeiten und technischen Lösungen vor allem bei der verlässlichen Bewertung und Belegung der Authentizität und Integrität von Quellen. Ebenso werden Forschende zunehmend ihre eigenen digitalen Archive aus dem Web produzieren, was methodische und rechtlich-ethische Fragen genauso impliziert wie die Notwendigkeit eines Forschungsdatenmanagements.

Wie analoge Quellen können auch born digital-Quellen nicht vollständig archiviert werden. Zugleich ist das Eingreifen bei ihrer Archivierung sehr viel weitreichender als bei Papier oder Objekten und geht mit einer Veränderung der Quelle einher. Inhalte einer Datenbank beispielsweise werden nur in Auszügen und als statisches PDF, Webseiten als Screenshots archiviert; aus born digital werden dadurch re-born digital-Quellen. Wenn aber Links, Interaktionen oder Such- und Sortiermöglichkeiten verloren gehen, ist der ursprüngliche Verwendungszusammenhang nicht mehr gegeben. Das wirft die Frage auf, wie sich diese Eingriffe auf unsere Erkenntnismöglichkeiten auswirken. Für die historische Forschung ist es unerlässlich, diese Eingriffe bei der Archivierung zu verstehen und gemeinsam mit Archivar*innen über die epistemologischen Folgen nachzudenken.

5 Digitales Denken lernen

Ein Update des häufig zitierten Diktums des französischen Mediävisten Emmanuel Le Roy Ladurie von 1968 könnte lauten: Die Historikerin von morgen muss digitales Denken lernen, oder es wird sie nicht mehr geben. Denn angesichts der sich verändernden Quellenlage werden über kurz oder lang alle historisch Forschenden zusätzlich über digitale Methoden verfügen müssen: um sie selbst anzuwenden, oder um das Zustandekommen wie die Ergebnisse anderer lesen und begreifen zu können. Nur so sind ein pluralistischer Diskurs innerhalb des Fachs und eine angemessene Bewertung von Forschungen im Bereich der Digital History möglich. Diese befindet sich nämlich nicht, wie bisweilen postuliert, in einem Zustand des „ewigen Versprechens“, sondern hat auch über die Digitalisierungsprojekte hinaus sehr wohl Ergebnisse geliefert, die es jedoch zu begreifen gilt.

Digitales Denken meint daher aufbauend auf den bereits genannten Kompetenzen der Digital Literacy vor allem die Art und Weise zu verstehen, wie in der digitalen Geschichte argumentiert und Fragen gestellt werden. Denn der Computer ist nicht nur zur Vereinfachung von Abläufen für die Geschichtsforschung von Interesse, sondern weil er zu einer anderen Perspektive auf historische Quellen zwingt, zu einer experimentalen Herangehensweise, deren Wert weniger in der Validierung von Hypothesen als in der Generierung neuer und anderer Fragen liegt.

6 Computergestützte Methoden einsetzen

Unter computergestützter Geschichte wird das Analysieren und Visualisieren von historischen Daten unter Verwendung von Tools oder einer Programmiersprache verstanden. Dazu gehören digitalgestützte Raum-, Text- und Netzwerkanalysen sowie zunehmend Ton- und Bildanalysen. Digitale Methoden erlauben über eine veränderte Skalierbarkeit neue Blickwinkel auf Quellen und ermöglichen so die Erforschung anderer Fragestellungen, längerer Zeiträume und größerer geographischer Gebiete. Zentral ist bei dieser Herangehensweise die unbedingte und gründliche Kontextualisierung digitaler Daten. So ist neben big data jüngst small data in die Aufmerksamkeit der digitalen Forschenden gelangt. Gemeint ist das Umkehren des Fokus auf kleine Momente, Gesten und auf das einzelne Wort unter Zuhilfenahme digitaler Methoden.

“Digitale Geschichte versucht, digitale und traditionelle Methoden zu verknüpfen und in einen fruchtbaren Dialog zu bringen.”

Die quantitativen Ansätze einer „data driven history“ ziehen die Hauptkritik vieler Historiker*innen auf sich, betonen sie doch die grundlegend qualitativinterpretative Herangehensweise ihres Fachs. Man könne, so war bereits in den 1960er Jahren zu hören, komplexes menschliches Verhalten nicht auf Datenpunkte und Gleichungen reduzieren. Diesen unproduktiven Streit zwischen beiden Lagern beizulegen, gehört zu den wichtigsten gegenwärtigen Herausforderungen des Fachs. Zum einen machen Historiker*innen die ganze Zeit quantitative Aussagen, entscheidend ist, dass sie nicht für sich alleine stehen. Zum anderen versucht die digitale Geschichte, digitale und traditionelle Methoden zu verknüpfen und in einen fruchtbaren Dialog zu bringen. Im Fach zu diskutieren sind hier erneut die epistemologischen Änderungen, die mit dieser Form der Erkenntnisgewinnung einhergehen.

7 Interdisziplinarität, Zusammenarbeit und Teilen lernen

Digitale Geschichte kann mit fortschreitender Spezialisierung kaum noch von einer einzelnen Person durchgeführt werden. Denn zum Verstehen der Quellen und zu den Kenntnissen des Kontexts des untersuchten Gegenstands sind in Projekten mit algorithmisch anspruchsvollen Verfahren spezialisierte IT-Kenntnisse und weitere Kompetenzen notwendig. Damit werden interdisziplinäre Zusammenarbeit genau wie Formen kollektiver Forschung eher zur Regel als zur Ausnahme. Gegenwärtige Karrierestrukturen fördern jedoch Kollaboration und Gemeinschaftsprojekte eher nicht. Diese geraten für eine wissenschaftliche Karriere vielfach da zum Nachteil, wo eindeutige Zuordnung gefordert wird oder die Kompetenzen fehlen, um digitale Anteile einer Arbeit fachkundig bewerten zu können. Für die Entwicklung der digitalen Geschichte ist es wichtig, hierfür gemeinsam Lösungen zu entwickeln.

Benötigt wird außerdem eine Kultur des Teilens von Daten, Methoden und Software, um in Zeiten knapper Ressourcen Doppelarbeit zu vermeiden und aus den Ergebnissen wie aus den Fehlern anderer zu lernen. Dazu muss sich zunächst die Erkenntnis durchsetzen, dass alle Historiker*innen Forschungsdaten erheben, etwa in dem sie Quellen in Archiven oder online als Foto oder Scan sammeln und exzerpieren, annotieren und transkribieren. Darauf aufbauend muss sich die Bereitstellung von Forschungsdaten soweit wie möglich nach den FAIR-Prinzipien genauso als Best Practice etablieren wie das bereits genannte transparente Nachnutzen und Zitieren.

8 Digitale Geschichte lehren

Lehre im Fach Geschichte sollte die gegenwärtigen technischen, rechtlichen, ethischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und mithin die digitale Transformation als Rückgrat unserer Gegenwart grundlegend adressieren. Nur so kann sie einen Beitrag zum Verständnis der Gegenwart leisten. Wir müssen daher gemeinsam darüber nachdenken, welche digitalen Grundkompetenzen ein zeitgemäßes Geschichtsstudium vermitteln soll und wie diese in ohnehin volle Lehrpläne eingepasst werden können. Die Ausbildung sollte so angepasst werden, dass auch Geschichtsstudierende, die später nicht in die Forschung gehen – allen voran zukünftige Lehrer*innen –, Kompetenzen erlernen, die in andere Kontexte übertragbar sind.

Zu diskutieren ist weiterhin, welche spezialisierten Kenntnisse über eine Digital Literacy hinaus vermittelt werden und welche Anteile dabei Informatik und Statistik einnehmen sollen. Tools oder Softwares veralten schnell, so dass der Fokus auf der Vermittlung grundlegender Konzepte der Informatik liegen sollte, vermittelt anhand von konkreten Fragestellungen. Selbst Programmieren zu können, ist aus meiner Sicht nicht für alle angehenden Historiker*innen notwendig, digitales Denken beherrschen allerdings schon. Weitere Schwerpunkte der Lehre sollten auf Methodenfragen und epistemologischen Diskussionen liegen, auf der Vermittlung von Standards, rechtlichen und ethischen Fragen und auf einer humanistischen Einstellung gegenüber Daten, ihrem Zustandekommen, ihren Lücken und ihrem Aussagewert.

Und zu klären ist schließlich, wie Lehrende angesichts enger Zeitbudgets ihren eigenen digitalen Weiterbildungsbedarf erfüllen können. Eine Möglichkeit liegt im Austausch und in der Zusammenlegung von Kompetenzen, in einem Netzwerk, das sich gegenseitig unterstützt und Hilfe leistet. Gute Praxis sollte sein, die eigenen Seminarplanungen online zu stellen.

9 Andere Publikationsformate akzeptieren

Forschungsprojekte, die digitale Methoden und Quellen einsetzen, benötigen für die Ergebnispräsentation häufig andere Formate als die bisher karriererelevanten gedruckten Monographien und Aufsätze. Im digitalen Kontext entstehen Narrative, die nicht linear sind, sondern multimodal aufgebaut und über Hypertext eine Vielzahl an Lesewegen ermöglichen. Zugleich werden mehrdimensionale Publikationsformen benötigt, die eine technisch elegante Verbindung von Narrativ, methodischer Reflexion und den zugrundeliegenden Daten genauso wie die eindeutige Zuordnung von Arbeitsteilen in kollaborativen Projekten erlaubt. Eine weitere Herausforderung digitaler Publikationen liegt in ihrer Fluidität, die Updates, Korrekturen und Versionierungen genauso ermöglichen wie Interaktion, Downloads und Nachnutzung.

Zugleich muss ein Umdenken einhergehen in Bezug darauf, was Forschungsergebnisse sind: das Zusammenstellen von Datencorpora, das Erstellen vonDatenbanken, die Auszeichnung von Quellen mit XML/TEI, mehrdimensional aufbereitete Statistiken, interaktive Websites oder Karten, Podcasts,Videos, Apps, etc. Diese multimedialen und multimodalen Formate beinhalten Interpretationen, die auf einer vertieften Auseinandersetzung mit einem Gegenstand oder einer Quelle beruhen, ganz so wie andere Publikationsformen auch.

Damit digitale Geschichte ihre Potentiale entfalten kann, müssen diese Formate ihren Platz im Publikationsverzeichnis finden, als karriererelevant angesehen und die Formen der Qualitätssicherung dafür angepasst werden. Zugleich müssen Historiker*innen in der Lage sein, mit diesen digitalen Formaten zu interagieren. Zu berücksichtigen ist ebenso, dass Digital History-Projekte langfristig Ressourcen binden im Hinblick auf Bereitstellung, Pflege und Archivierung. Die momentane Entwicklung nationaler Forschungsdateninfrastrukturen (NFDI) sollte zu einer gleichmäßigen Verbreitung digitaler Chancen in dieser Hinsicht beitragen.

10 Verhältnis zur Öffentlichkeit neu bestimmen

Die Online-Welt hat das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit in Bezug auf Produktion, Zugang zu und Rezeption von Wissen von Grund auf geändert. Wissenschaftliche Inhalte sind – sofern sie Open Access zugänglich sind – leichter greifbar geworden. Eine direkte und kontinuierliche Kommunikation zwischen Forschenden und Öffentlichkeit etwa über partizipative Medien wie Wissenschaftsblogs ist genauso möglich wie ihr aktives Einbinden in die Forschung über Citizen Science-Projekte oder in die Finanzierung über Crowdfunding.

Durch die niedrigen Zugangs- und Produktionsschranken haben sich im Internet Texte, Audio- und Videodateien mit Bezug auf Geschichte vervielfacht. Dabei sind weitere Akteur*innen hinzugekommen, die das Diskursmonopol der professionellen Geschichtsforschenden in Frage stellen. Es verschwimmen die Grenzen zwischen Produzentin und Rezipient genauso wie zwischen Expertin und Amateur, zwischen öffentlich und privat, was nicht ohne Herausforderungen im Hinblick auf die Bewertung von Qualität und Relevanz von Forschung ist. Als weitere Herausforderung für die Wissenschaft ist eine gewisse Ernüchterung im Hinblick auf Partizipations- und Demokratisierungsversprechen eingetreten, gepaart mit Vertrauensverlust in die Wissenschaft, und es stellen sich große Herausforderungen in Bezug auf die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, Privatsphäre, Hate Speech und Verleumdung im Netz.

Die Geschichtswissenschaft muss sich mit den geänderten Rahmenbedingungen auseinandersetzen und ihren Platz in einem sich stetig verändernden System des sozialen Austauschs neu finden. Benötigt wird eine breite Diskussion, angemessene technische Lösungen sowie vor allem das Engagement und der Mut der Historiker*innen, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen und umgekehrt die Öffentlichkeit an Forschung teilnehmen zu lassen. Wissenstransfer sollte Karriererelevanz erhalten, denn er ist in Zeiten von Fake News wichtiger denn je.

Ebenso müssen Historiker*innen gesellschaftlich relevante Fragestellungen vorantreiben und diskutieren, um die Bedeutung der Geisteswissenschaften in Zeiten der Neo-Liberalisierung der Forschung zu stärken. Dabei ist die Balance zu finden, um Vereinfachungen zu vermeiden, die Unabhängigkeit der Forschung zu bewahren und sich nicht im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit zu verlieren.

[Title Image via Getty Images]

Mareike König

Mareike König ist Historikerin mit Schwerpunkt deutsch-französische Geschichte im 19. Jahrhundert sowie wissenschaftliche Bibliothekarin. Sie ist stellvertretende Direktorin am Deutschen Historischen Institut Paris, wo sie zugleich die Abteilung Digital Humanities und die Bibliothek leitet. Derzeit ist sie Sprecherin der AG Digitale Geschichtswissenschaft im VHD. Foto: © DHIP/Martin Steffen

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