Ostdeutsche Physikerinnen: Wie veränderte die Wende ihr Leben?

Die Physik gilt als ein seit Jahrhunderten männerdominiertes Fach, doch in der DDR eröffneten sich für Frauen im Forschungsbetrieb neue Möglichkeiten. Interviews mit ostdeutschen Physikerinnen zeigen, dass der Herbst 1989 zwar als politisch befreiend erlebt wurde, aber auch eine Reihe ungeahnter Probleme für ihre Karrieren mit sich brachte.

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie zum Women’s History Month (Monat der Frauengeschichte).

Forschende der Physik genießen in der Öffentlichkeit und im akademischen Bereich über ein hohes Ansehen. Gemeinhin verbindet man mit ihnen ein hohes Maß an logischem und abstraktem Denkvermögen, technisches Verständnis sowie Beharrlichkeit – Eigenschaften, die Frauen allgemein und Wissenschaftlerinnen im Besonderen bis in das 20. Jahrhundert hinein weitgehend in Abrede gestellt wurden. Die Physik ist noch heute eine der am stärksten männerdominierten Wissenschaftsdisziplinen und zählt im akademischen Bereich zu den Schlusslichtern in Sachen Gendergerechtigkeit. Doch war das tatsächlich schon immer so?

Wie sah die Situation während der Teilung Deutschlands aus – speziell in der DDR, in der die Gleichberechtigung der Frau intensiv gefördert wurde? War das DDR-„Frauenförderungssystem“ mit seinen staatlichen Verordnungen, Berichtspflichten und Propaganda nur Ideologie oder stellten sich auch für Wissenschaftlerinnen tatsächliche emanzipatorische Fortschritte ein? Überdauerten Erfolge in der DDR-Wissenschaftlerinnen-Förderung die Deutsche Einheit 1990? Wie veränderten sich Karriere, Status und Stellung von Physikerinnen in Ostdeutschland nach der Zäsur von 1990 und wie nahmen die Wissenschaftlerinnen selbst diesen Bruch in ihrem beruflichen und persönlichen Leben wahr?

Diesen und weiteren Fragen bin ich in einer Studie über die Karriereverläufe von Physikerinnen in der DDR und dann im geeinten Deutschland nachgegangen. Sie beruht auf der Auswertung ungedruckter Quellen aus dem Bundesarchiv Berlin, aus sieben Universitätsarchiven sowie dem Archiv der ehemaligen DDR-Akademie der Wissenschaften. Eine besondere Quellengattung, welche die Untersuchung auszeichnet, sind 41 im Zeitraum von 2016 bis 2018 geführte Interviews, davon 32 mit ostdeutschen Physikerinnen, vier mit westdeutsch sozialisierten Physikerinnen und fünf mit männlichen Physikern. Die Gespräche unterschieden sich je nachdem, ob die Physikerinnen zur Generation „um 1940 geboren“ oder „um 1960 geboren“ gehörten, ob sie in Wissenschaft und Forschung nach 1990 verblieben oder ausscheiden mussten und welche Art von Karrierebrüchen sie erfuhren.

Ein Manko der Stichprobe war, dass nur zwei der befragten Physikerinnen den Wissenschaftsbetrieb unfreiwillig verlassen hatten. Kontakte zu dieser Gruppe ehemaliger Wissenschaftlerinnen herzustellen war eine Herausforderung. Wenn Ansprechpartnerinnen namentlich ausgemacht werden konnten, wurden die Interviewanfragen abgelehnt. Es kam kein einziges Interview mit Physikerinnen zustande, die ihre Universität oder Forschungseinrichtung aufgrund politischer Belastungen, wie einer höheren Funktion in der SED oder einer nachweislichen Verbindung zum Ministerium für Staatssicherheit, nach 1990 verlassen mussten.

Dramatische Einschnitte

Eine der für mich interessantesten Fragen war jene nach dem Erleben und Bewerten des Transformations- und Evaluationsprozesses nach 1990. Den interviewten Physikerinnen zufolge wurden berufliche Konkurrenzerfahrungen zwischen Mann und Frau im DDR-Wissenschaftssystem bis 1989 von ihnen nicht erfahren. Alle Befragten fühlten sich als Frauen im DDR-Wissenschafts- und Forschungssystem anerkannt und gleichberechtigt. Dieses Gefühl hätte sich nach 1990 sogar verstärkt. Erst in der Umgestaltungsphase des ostdeutschen Wissenschaftssystems nahmen sie eine wachsende Konkurrenz um die deutlich weniger werdenden Stellen im Hochschul- und Forschungsbereich wahr.

“Die ostdeutschen Physikerinnen sahen sich im Wendeprozess erstmalig mit Stereotypen bezüglich der ‘Frau in der Wissenschaft’ konfrontiert. ”

Von allen Interviewten wurde diese Konkurrenz als eine zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen gesehen, nicht zwischen Männern und Frauen. Die ostdeutschen Physikerinnen sahen sich im Wendeprozess erstmalig mit Stereotypen bzw. männlichen Vorurteilen westdeutsch sozialisierter Vorgesetzter bezüglich der „Frau in der Wissenschaft“ konfrontiert. Es erstaunte sie zunächst, machte sie dann ärgerlich und ließ sie schließlich aktiv für ihre weitere akademische Berufstätigkeit eintreten. Energisch kämpften sie um ihre Position und gingen auf der Suche nach adäquaten und geeigneten beruflichen Perspektiven pragmatisch vor.

Obwohl der Herbst 1989 von fast allen Wissenschaftlerinnen als politisch befreiend erlebt wurde, wird der gesamte Transformationszeitraum eher negativ erinnert, und das bis heute. Den Prozess erlebten die Wissenschaftlerinnen mehrheitlich als dramatischen Einschnitt in ihrer Berufslaufbahn. Obwohl alle Befragten ihre Karriere in der Physik bzw. in deren Umfeld fortsetzten, beschrieben sie diese Jahre als belastend, enttäuschend und oft auch ungerecht. Die Evaluation, die Verfahren der Neubewerbung auf ausgeschriebene Stellen wurden als von außen, von Westdeutschland gesteuert und durchgedrückt, sowie als befremdlich, unfair und unkollegial bewertet.

“Der Vorgang der Evaluation und Transformation wurde fast durchweg als undemokratisch und unter Ausschluss der eigentlich Betroffenen gesehen. ”

Die größte Kränkung bereitete den Wissenschaftlerinnen, dass auf ihre Berufserfahrung, Kompetenz und Meinung von westdeutscher Seite keinerlei Wert gelegt wurde. Der Vorgang der Evaluation und Transformation wurde fast durchweg als undemokratisch und unter Ausschluss der eigentlich Betroffenen gesehen. Dieses Urteil galt, mit einer Ausnahme, auch für die Wissenschaftlerinnen, die kritisch zum DDR-Staat gestanden und sich der SED ferngehalten hatten. Etwa die Hälfte der Befragten musste mit Ausdauer und Geschick um ihre Stelle entsprechend ihrer Ausbildung und bisher zurückgelegter Berufslaufbahn kämpfen.

Ein Drittel der Frauen hatte zunächst nur zeitlich befristete Stellen inne, welches große berufliche und persönliche Unsicherheiten mit sich brachte. Bei einem Viertel der interviewten Wissenschaftlerinnen zeigte sich der Bruch ihrer Berufslaufbahn darin, dass sie aus der Forschungs- und Wissenschaftsarbeit ausschieden, um eine Stelle im Wissenschaftsmanagement anzunehmen.

Fast alle Befragten sagten übereinstimmend aus, dass Gleichstellung oder gar Förderung von Wissenschaftlerinnen die gesamten 1990er Jahre über, also im Transformationszeitraum, keine Rolle spielten. Erste Ansätze zu Gleichstellungsfragen begannen erst in der Mitte der 2000er Jahren wiederaufzuleben.

Wochenendehen und Einzelkämpfertum

“Für etwa die Hälfte der Physikerinnen war es unvermeidlich, von der ostdeutschen Einrichtung in eine westdeutsche zu wechseln, um im akademischen Beruf bleiben zu können.”

Das Fehlen unbefristeter Wissenschaftler- bzw. Forscherstellen, die fortlaufenden Befristungen, die ewigen Projektstellen und Zeitarbeitsverträge brachten eine große und vordem nicht gekannte Unsicherheit in der gesamten Lebensplanung mit sich.

Für etwa die Hälfte der befragten Physikerinnen war es unvermeidlich, von der ostdeutschen Einrichtung in eine westdeutsche zu wechseln, um im akademischen Beruf bleiben zu können. Oft blieben sie dort einige Jahre, um dann an die ursprüngliche Institution zurückzukehren. Damit bewiesen die Frauen Mobilität, Eigeninitiative und berufliches Engagement, obwohl sie sich auf eine Wochenendehe einrichten mussten und die meist halbwüchsigen Kinder beim Partner blieben. In diesem Zusammenhang muss das gelebte partnerschaftliche Verhältnis, die Gleichberechtigung, zwischen den betroffenen Physikerinnen und ihren Männern hervorgehoben werden. Diese Männer waren bereit und in der Lage, über Jahre das Familienleben mit Kindern zu gestalten. Jedoch gab es auch Wissenschaftlerinnen, die die – positiv ausgedrückt – geforderte Mobilität oder – negativ – das Wissenschaftsnomadentum ablehnten und verweigerten.

Vor allem die jüngeren Physikerinnen machten nach 1990 einschneidende Konkurrenzerfahrungen um die wenigen unbefristeten Wissenschaftsstellen. Diese spielten sich, so die Interviewaussagen, nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschen, sondern auch zwischen Männern und Frauen ab. Einzelkämpfer im Bereich Wissenschaft und Forschung zu sein, war im neuen Deutschland deutlich ausgeprägter als in der DDR. In der DDR, so erinnerten sich die Wissenschaftlerinnen, habe man ein solches Gegeneinander und ein Ausspielen von Männern gegen Frauen nicht gekannt.

Eine der befragten Physikerinnen – Jahrgang 1949, promoviert, vor und nach 1990 an einer ostdeutschen Universität angestellt – äußerte sich im Interview wie folgt:

Auf einer unbefristeten Mittelbaustelle konnte man lebenslänglich und relativ selbständig forschen und arbeiten als ‚nur‘ promovierte Wissenschaftlerin unterhalb der Professorenebene. Ich war frei in meiner wissenschaftlichen Arbeit. Dafür bin ich unheimlich dankbar, dass ich so als Physikerin arbeiten durfte. Habilitieren war wirklich hart. Auch wollte ich meinen Kindern eine gute Mutter sein [Alleinerziehende mit zwei Kindern]. […] In unserem Bereich der Teilchenphysik konnte jeder mal in den Westen fahren. Das hat unser Chef arrangiert. Ich war zweimal in Triest, Italien, am Zentrum für Theoretische Physik. […] Für mich kam die Wende zu spät. Ich konnte nicht meine Kinder nehmen und mit diesen in die Welt ziehen. […] Wir hatten nicht die Möglichkeiten in der DDR gleichzuziehen mit den Spitzenleistungen. […] In meinem Forschungsgebiet hätten wir ständig international zusammenarbeiten müssen. Wir blieben immer zweite Liga. Das hatte ich schon in Dubna [Sowjetunion] gesehen. Man hätte nach Luzern, nach Genf gehen müssen. Das war nicht möglich. Ende 1989 kamen Frauen von der Freien Universität [West-Berlin], die darauf drängten, Frauenstrukturen aufzubauen. Ich gehörte dann zur Frauenkommission auf Universitätsebene. Ich habe mich der Sache Gleichstellung angenommen. Ich saß somit in allen diesen Kommissionen Stellenplankommission, Strukturkommission, Berufungskommissionen. Es waren furchtbare, bittere, generell die schlimmsten Jahre meines Lebens. […] Die neuen West-Professoren hatten kein Verständnis für die Situation in der DDR, obwohl viele sich bemüht haben. Mein Glück war, dass ich in allen Kommissionen saß, und so wusste ich, wo neue Stellen geschaffen wurden, eine davon für mich. Es war eine reine Verwaltungs- und Studienbetreuungsstelle. Forschung war nicht mehr möglich. Anfänglich war ich unglücklich mit dieser Referentenstelle ohne Forschung. Die Referentenstelle war für mich ein Job. Er hat mich nicht gefordert. Bis zur Berentung 2014 hatte ich diese Stelle inne. Ich war aber auch froh über diese Stelle damals mit meinen beiden halbwüchsigen Kindern.“ [S. 370 f. der Monographie]

Resümee und Ausblick

Die Förderung von Wissenschaftlerinnen in der DDR hob zwar nicht die Unterrepräsentanz von Frauen in der Forschung auf (in den 1980er Jahren waren es über alle Fächer hinweg 35%), aber führte doch zu erlebbaren Fortschritten in punkto Gendergerechtigkeit.

Heute liegt der Anteil promovierter Physikerinnen in Deutschland bei 20 Prozent, aber nur jede zehnte Physikprofessur ist mit einer Frau besetzt (Stand 2020). Was muss sich ändern?

Um eine gendergerechtere Weiterentwicklung anzustreben, muss zunächst die Anzahl weiblicher Studierender in der Physik erhöht werden. Des Weiteren sollten Physikerinnen als Rollenvorbilder präsenter in den Medien werden. Es muss sich dabei bewusst gemacht werden, dass Männer in der Wissenschaft signifikant stärker um Selbstinszenierung bemüht sind, was besonders karriereförderlich ist. Vor allem aber muss der Wissenschaftsmythos einer Arbeitskultur, die auf ein zeitlich und räumlich unbegrenztes Arbeiten abzielt, entkräftet werden. Noch immer liegt die Kinderbetreuung hauptsächlich auf den Schultern der Mütter und führt zu entsprechend höheren beruflichen Ausfällen.

Solange deutsche Hochschulen trotz zunehmender Gleichstellungsbemühungen auf diesem Wissenschaftsideal verharren und sich viele Frauen zwischen Kind und Karriere entscheiden müssen, wird sich am ungleichen Geschlechterverhältnis in universitären Spitzenpositionen nichts ändern.

[Titelbild: Bundesarchiv, Bild 183-P1216-0020 / Waltraud Grubitzsch / CC-BY-SA 3.0]

Heike Amos

Heike Amos, 1962 in Ost-Berlin geboren, studierte an der Universität Leipzig Geschichte und Germanistik und promovierte 1987. Von 1990 bis 2005 war sie Historikerin an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Seit 2007 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Geschichte der DDR/SED 1945 bis 1990.

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