Moderne Musikvideos: Unbequeme Themen in schöner Verpackung

Zeitgenössische Musikvideos von Janelle Monae, The Carters und anderen sind zu einem beliebten Gegenstand medienkulturwissenschaftlicher Analysen geworden. Und das nicht ohne Grund: Im Hochglanz-Gewand tragen sie zur Debatte über die wichtigen gesellschaftlichen und politischen Fragen unserer Zeit bei.

In den 1980er Jahren waren Musikvideos als Katalysatoren für Superstars wie Madonna, Michael Jackson, Prince und andere große Interpreten enorm bedeutend. Heute sind es Sevdaliza, Lil Nas X, Janelle Monaé und The Carters, die das Musikvideo mit neuen kulturellen Ästhetiken in die Liga eines „Quality Music Video“-Genres überführen. Sie setzen eine Tendenz junger Schwarzer Musiker*innen fort, Figuren und Theorien aus der Antike bis zur Gegenwart neu zu erarbeiten und damit akademisch relevant werden zu lassen.

Das Musikvideo, das Filme, bildende Kunst, Mode und Posen zitiert, ist von seiner Anlage per se dadurch gekennzeichnet, dass es Einflüsse aus allen Epochen, Zeiten und Stilen zusammenführt. Medienkunst, Werbeclips und Filmzitate verschmelzen miteinander; feststehende Entitäten werden clipartig nebeneinandergestellt und eröffnen somit neue Assoziations- und Diskursräume, die nun auch in der Medienkulturwissenschaft behandelt werden.

Künster*innen wie Janelle Monaé oder Sevdaliza setzen sich mit Fragen auseinander, die das Menschliche überwinden. In ihren Musikvideos fragen sie nach dem danach und schließen an grundphilosophische Fragestellungen nach der Verfasstheit des Menschen an. Sind Cyborgs oder Mensch-Tier-Wesen Kategorien, die menschliche Stereotypien überwinden? Lässt sich Sprache überwinden? Wie kann eine herrschende Sozialordnung überwunden und erneuert werden?

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Der Theaterwissenschaftlerin Katharina Rost zufolge, zeigen die Videos: „… Desorientierung in vielfältiger Weise oder rufen sie gezielt hervor. So ist es zum Beispiel nicht immer möglich, die dargestellten Lebewesen eindeutig zu identifizieren, so dass die üblichen Schemata, die Welt zu kennen und systematisieren zu können, nicht zur Verfügung stehen“ (übersetzt aus dem Englischen.)

The Carters übernehmen den Louvre

Solche Gesten theoretischer Auseinandersetzungen bilden Möglichkeiten einer neu profilierten Selbstermächtigung. Auch die Megastars Beyoncé und Jay-Z sind ein gutes Beispiel für Gesten des Empowerments. So produzierten sie als The Carters ihr Musikvideo „Apeshit“ (2018) im Pariser Louvre und formulierten damit Kultur- und Kunstgeschichte neu.

Das Video ist kunst- und medienkulturgeschichtlich eine Sensation, da es zum einen Kunstwerke seit der Renaissance einem Popkultur-Publikum zugänglich macht und zum anderen den bürgerlichen Kunstbegriff als ausschließlich weißen Terminus entlarvt. Damit enthüllt es die Wissensgeschichte als eine Geschichte europäischer (Bild-)Machtdiskurse. Dass gerade die europäische Bildgeschichte als zentraler Referenzpunkt des Videos, in dem es um Schwarze Identität und Schwarzes Selbstbewusstsein geht, bemüht wird, ist erstaunlich. Schwarze Blickästhetiken vereinnahmen weiße Kunstgeschichte und formulieren damit die Ordnung der Sichtbarkeiten neu.

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Ein Beispiel aus dem Musikvideo: Die Nike von Samothrake ist eine bedeutende hellenistische Figur, die architektonisch zentral im Pariser Louvre positioniert ist. Somit erstaunt es nicht, dass gerade sie als eine der wichtigsten visuellen Referenzen des Museums im Video „Apeshit“ dargestellt wird. Beyoncé stellt sich vor die Skulptur und rückt sich damit selbst in den Vordergrund. Den Eindruck verstärken Schwarze Tänzerinnen, die einen schweren, scharf akzentuierten und expressiven Bewegungsablauf performen und gewissermaßen den Schatten der Nike bilden, indem sie sie in die Dramaturgie mitaufnehmen.

Ein weiteres wichtiges Bildbeispiel für Gesten des Empowerments findet sich gegen Ende des Videos. Die Szene ist angelehnt an das Bild „The Charging Chasseur“ von Théodore Géricault aus dem Jahr 1812. Darin wird eine imperialistische Geste ins Bild gesetzt, die einen zum Angriff bereiten napoleonischen Kavallerieoffizier darstellt. Die nächste Szene im Video nimmt diesen Gestus auf und verfremdet ihn: ein Schwarzer Mann steht auf einem Pferd und konterkariert damit den Kolonialgedanken.

Ähnlich postkolonial reflektiert wird ab Minute 3:33: Die Skulptur „Hermes Fastening his Sandal“ von Lysippos wird eingeblendet und anschließend als zeitgenössische Kniepose umgedeutet – als Protestgeste gegen rassistisch motivierte Gewalt und Tötungen Schwarzer Menschen durch die Polizei.

Platonanklänge bei Lil Nas X

In anderen zeitgenössischen Videos lassen sich Beispiele finden, die Bezug nehmen auf antike Ikonografien. So wird zum Beispiel im Video von Lil Nas X‘ „Montero“ die barocke Frisurenmode mit biblischer und philosophischer Theoriebildung und Kanon verknüpft. Die Ästhetik erinnert dabei an Netflix-Serien wie „Bridgerton“ und auch Marie-Antoinette ist im Feuilleton immer wieder als Assoziation aufgegriffen worden.

Man kann vermuten, dass Hierarchie und Adel so in Szene gesetzt werden, um eine Geschichte ohne Schwarze Menschen grundlegend in Frage zu stellen. Geht es nicht um Ausschluss und um eine Geschichte, die traditionell erzählt wird, ohne Schwarze Perspektiven mitzudenken?

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Dies gilt auch für die unmittelbare Gegenwart: Ebenfalls in Lil Nas X‘ „Montero“-Video werden Bildästhetiken des weißen schwulen Films wie „Call me by your Name“ ironisch aufgegriffen und zugleich mit einer Platonischen Philosophiegeschichte in Verbindung gebracht.

Dem von Platon erfundenen und von Aristophanes überlieferten Mythos der „Kugelmenschen“ zufolge, existierten ursprünglich nicht nur zwei Geschlechter, sondern drei: Manche Kugelmenschen seien rein männlich, andere rein weiblich gewesen, wiederum andere – die andrógynoi – hätten eine männliche und eine weibliche Hälfte gehabt. Indem Lil Nas X diese Geschichte in ein kommerzielles Musikvideo einbaut, erschafft er damit einen neuen Raum für Diskussionen, die es nicht erst seit heute, sondern schon seit über 2000 Jahren gibt.

Geschickt verpackt

Zuletzt stellt sich die Frage, warum gerade die Gattung des Musikvideos dazu einlädt, Mega-Metadiskurse zwischen Gender Studies, Queer Theorie, queerer Geschichte, Philosophie und Filmgeschichte aufzurufen.

Zweifelsohne findet in Videos wie „Apeshit“ und „Montero“ eine Auseinandersetzung mit den wichtigen gesellschaftlichen und politischen Fragen unserer Zeit statt. Aufgrund des hohen philosophischen Niveaus und des marketingtechnischen Produktionszusammenhangs wird diese Auseinandersetzung selbst jedoch selten als Anklage strukturell geführter Debatten wahrgenommen.

Das Politische ist hier unbedingter Teil der Kunst, aber gleichzeitig ästhetisch so gut verpackt, dass es zumindest auf den ersten Blick nicht sichtbar ist. Diesem Spannungsfeld gilt es in der modernen Musikvideo-Forschung nachzugehen.

[Title image by Gordon Cowie via Unsplash]

Kathrin Dreckmann

Dr. Kathrin Dreckmann ist Studienrätin im Hochschuldienst am Institut für Medien- und Kulturwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Deutschland. Sie lehrt und forscht im Feld der Acoustic Studies, Gender Studies und Medienkulturwissenschaft. Zu ihren jüngsten Arbeiten gehören Veröffentlichungen zur Medientheorie und -ästhetik des Musikvideos und der populären Musik sowie zu Konzepten der Fluid Media Studies.

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