Leben nach dem Genozid – Ein Gespräch mit Talin Suciyan über armenische Geschichte und Erinnerungspolitik in der Türkei

Wie haben Armenier und Armenierinnen nach dem Völkermord im Jahre 1915 weitergelebt? Und welche Art von Gesellschaft hat sich in den letzten hundert Jahren gebildet? Im Interview sprechen Talin Suciyan und die Anthropologin Deniz Yonucu über eine andere Geschichte der Türkei.

“Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.”

– Walter Benjamin –

In ihrem 2015 auf Englisch erschienenen Werk The Armenians in Modern Turkey zeigt Talin Suciyan auf Basis der offiziellen Dokumente und einer großen Anzahl an armenischen Quellen, die bis heute unbeachtet geblieben sind, dass der Genozid nicht nach ein bis zwei Jahren einen Abschluss fand, sondern dass die Katastrophe auch darüber hinaus anhielt. Das Buch beleuchtet, wie und in welchen Formen die Katastrophe in das neue System eingegliedert wurde und wie sich die Erfahrung gestaltete, in der Türkei Armenier*in zu sein.

Dieses Interview wurde im April 2019 anlässlich des Erscheinens der türkischen Ausgabe von The Armenians in Modern Turkey erstmals in der türkischen Zeitschrift Birikim (Istanbul) veröffentlicht. Das Gespräch wurde von Michaela Taubenberger ins Deutsche übersetzt und von Jörg Heinemann und Sibel Türker lektoriert.

In seinem berühmten, zur Zeit des Naziregimes verfassten Aufsatzes Über den Begriff der Geschichte prägte Walter Benjamin den Satz: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist.“ Auch wies er darauf hin, dass wir, um die Gesellschaften, in denen wir leben, begreifen zu können, unseren Blick nicht von der Geschichte der Unterdrückten abwenden dürften.

So eröffnet auch Talin Suciyan eine neue Perspektive auf die Geschichte der Republik Türkei, indem sie für den Zeitraum der ersten zehn Jahre nach dem Genozid einerseits die Geschichte der dort lebenden Armenier*innen, andererseits die Politik, die diesen gegenüber verfolgt wurde, mit großer Sorgfalt untersucht. Wie sie es in ihrem Buch darstellt, ist die Geschichte der in der Türkei lebenden Armenier*innen gleichzeitig die Geschichte der Türkei. Die Geschichte der Armenier*innen ist nicht eine Ausnahme, sondern sie enthüllt geradezu die reguläre Geschichte.

Wir haben mit Talin Suciyan sowohl über ihr Buch gesprochen als auch über die neuen Forschungsperspektiven, die nötig sind, um besser zu verstehen, welche Praktiken der politischen Verwaltung in der Türkei und in ihrem Vorgängerstaat, dem Osmanischen Reich, angewendet wurden und wie jeweils die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung erfolgt ist.

Deniz Yonucu: Talin, in deinem Buch beschreibst du anhand von Urkunden und Berichten von Zeitzeug*innen, wie Armenier*innen unterschiedlicher sozialer und lokaler Herkunft in den ersten zehn Jahren nach dem Völkermord mit der Katastrophe alleingelassen wurden und in welcher Weise diese sowohl von den türkischen Führungseliten als auch von der lokalen Bevölkerung fortgesetzt wurde.

Diese Dokumente und Berichte geben jenen eine wichtige Antwort, denen die Frage paradox erscheint, weshalb die Republik Türkei, die ja für sich behauptet, mit dem Osmanischen Reich radikal gebrochen zu haben, dennoch dessen größtes Verbrechen leugnen solle. Die Belege liefern klare Beispiele dafür, wie die Gründer und Machthaber der Türkei dieses Verbrechen in den neuen Staat eingegliedert haben, wie sie die Armenier*innen weiterhin als Feind und potenzielle innere Gefahr betrachteten und welche entsprechenden politischen Maßnahmen sie ergriffen.

So gab es zum Beispiel 1943 einen Kabinettsbeschluss zur Verlegung des Grabes von Talat Pascha, einem der Hauptdrahtzieher des Genozids, in die Türkei: Dieser ist in seiner Symbolhaftigkeit ein mit gewaltvoller Bedeutung aufgeladenes Ereignis, das die Art und Weise der Vereinnahmung des Genozids durch die Eliten der Republik Türkei verdeutlicht.

Dein Buch zeigt nicht nur den Habitus der Leugnung auf, sondern veranschaulicht gleichzeitig auch die Kontinuität in den gegen die Armenier*innen gerichteten Praktiken. Kannst du dies ein wenig ausführen?

Talin Suciyan: Der andauernde Antiarmenierismus ist dem Habitus der Leugnung immanent. Wir haben eine Vorstellung von den Ereignissen von 1915/16, doch nicht davon, wie sehr diese die Republik strukturell geprägt haben.

Wie kann es denn sein, dass man annimmt, dass solch ein entscheidendes Ereignis, welches die gesamte Region und alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen unumkehrbar beeinflusst hat, in den Folgejahren dort keine bemerkenswerten Spuren hinterlassen würde? Ein Großteil der vorhandenen Literatur leugnet dies entweder oder zieht es vor, das Thema nicht zu beachten, zu übergehen und eine Auseinandersetzung mit diesem Wendepunkt zurückzuweisen.

“Wie kann es denn sein, dass man annimmt, dass solch ein entscheidendes Ereignis, welches die gesamte Region und alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen unumkehrbar beeinflusst hat, in den Folgejahren dort keine bemerkenswerten Spuren hinterlassen würde?”

Selbst wenn sich seit einigen Jahren allmählich in der Forschung eine andere Stoßrichtung herausbildet, ist es eine unumstößliche Tatsache, dass wir 103 Jahre nach dem Genozid noch weit von dem eigentlich nötigen Forschungsstand entfernt sind. Allerdings ist das Wichtigste dabei, dass die Überlebenden-Generation, die ich ins Zentrum dieser Arbeit gestellt habe, inzwischen von uns gegangen ist.

Die osmanische Administration kannte die ethnischen Gruppen, die unter ihrer Herrschaft lebten, sowie deren konfessionelle und regionale Unterschiede sehr genau und griff in sehr professioneller Weise auf diese zurück. Sie kannte auch die armenische Verwaltung und die Armenier*innen sehr gut; sie wusste von den Unterschieden zwischen der Verwaltung in Istanbul und in den Provinzen. Sie wusste genaustens Bescheid auch über die jeweiligen Zuständigkeiten und Einflussbereiche der wichtigen armenischen Verwaltungszentren wie dem Katholikat in Kozan (Sis), dem Patriarchat in Jerusalem, dem Katholikat in Ahtamar und Etschmiadsin.

Da es sich hierbei um eines der Völker handelte, die am längsten dort ansässig waren, war es für die osmanische Verwaltung selbstverständlich, über dessen geschichtliche Entwicklung gut Bescheid zu wissen. Wie befremdlich dies doch aus heutiger Sicht klingt … Letztlich war das armenische Patriarchat in Istanbul ja eine osmanische Institution.

Zudem kann hier ohne Weiteres gesagt werden, dass die Armenier*innen diejenigen waren, die Türkisch am breitesten verwendeten – sowohl gesprochen als auch geschrieben und sogar gedruckt (sei es unter Verwendung des arabischen oder des armenischen Alphabets). Die Armenier*innen waren folglich ein wichtiger Bestandteil des Osmanischen Reiches und pflegten jahrhundertelang stetige Beziehungen zur osmanischen Verwaltung; sie bildeten gemeinsam mit der griechischen Bevölkerung des Reiches die größte christliche Bevölkerung und waren in Landwirtschaft und Viehzucht, in produzierenden Bereichen, in Handwerk und Kleinhandel, im Finanzbereich sowie in höheren staatlichen Stellungen teilweise mit hoheitlichen Aufgaben ebenso einflussreich wie im kulturellen Bereich.

Die Entscheidung, dieses Volk zu vernichten, bedeutete, auch diese Vergangenheit zu vernichten, bedeutete, ab jetzt einen neuen Referenzpunkt zu schaffen, eine neue Welt zu erschaffen, in der eine Vergangenheit und eine Zukunft ohne Armenier*innen errichtet werden sollte.

Bis heute erleben wir die Konsequenzen dieser Entscheidung. Der Wille zu dieser Entscheidung war konstitutiv und dauert anscheinend notwendigerweise bis heute an. Ich habe in diesem Buch versucht, zu zeigen, mithilfe welcher Methoden, auf Basis welcher Quellen und wie systematisch dieser Wille unter Beteiligung der nicht armenischen Bevölkerung umgesetzt wurde. Genau aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass man die Armenier*innen in den Fokus rücken sollte, wollte man denn eine andere Geschichtsschreibung erreichen.

Dies rührt nicht von der Wichtigkeit der Armenier*innen her, sondern von der Tatsache, dass diese durch den Staat im „Vertrauen“ auf seine nicht armenische Bevölkerung getroffene Entscheidung mit solch großer Beständigkeit und Entschlossenheit fortgeführt wurde. Über ein Jahrhundert hinweg wurde dieses Thema ohne Unterlass und unter der Aufwendung eines kaum zu fassenden Budgets zu dem grundlegendsten, jeden Lebensbereich bestimmenden Thema, und zum Aufrechterhalten dieser Leugnungsstrukturen hat die nicht armenische Bevölkerung in jedem Bereich mit ihrem Staat zusammengearbeitet, und so ist schließlich eine „Nation“ entstanden.

Genau aus diesem Grund würden wir, stellten wir also die Armenier*innen ins Zentrum unserer Betrachtungen, auch grundlegende Informationen zu den Zusammenhängen mit den Erlebnissen anderer Gruppen erhalten. Ich möchte Folgendes sagen: Das Wissen der Armenier*innen ist das älteste und fundamentalste dieses Landes. Doch anstatt darauf zu warten, dass sie sprechen, könnte man darüber nachdenken, welchen Alltag die Täterschaft geschaffen hat.

Suchten wir den Ort des Verbrechens auf, müssten wir unser Augenmerk nicht auf weit von Wohngebieten entfernte Konzentrationslager richten, wie man sie in Europa findet; sondern alle könnten sich in ihren eigenen Vierteln umschauen. In den Provinzen heute sind nicht die Überreste der gesprengten Kirchen und Klöster frappierend – ganz im Gegenteil, diese sind alltägliche Ansichten. Das Frappierende sind die Kirchen‚ Friedhöfe und armenischen Viertel, die zu Wüsteneien und Geisterlandschaften geworden sind.

Heute existieren die Armenier*innen durch die Leerstellen, die sie hinterlassen haben – dies zu begreifen an sich ist sehr wichtig. Ein großer Teil der bisherigen Bemühungen, bei denen die Philoarmenier*innen im Namen der Armenier*innen reden und diesen sagen, was sie zu tun hätten, sowie die Schlussfolgerungen, die gezogen werden, ohne die strukturelle Übergeordnetheit ebendieser Fürsprecher in Wissenschaft, Kunst und allgemein der intellektuellen Szene zu reflektieren, setzen die systematische Massenvernichtung in Form von epistemischer Gewalt fort.

Der Grund dafür, warum die türkischen Intellektuellen die Diaspora-Armenier*innen immer negativ etikettieren, sie ermahnen und sie zu Feinden zu erklären, liegt darin, dass die Diaspora-Armenier*innen diese epistemische Gewalt nicht schweigend akzeptieren wollen, sondern sich selbst zu diesen Fragen äußern und Widerspruch einlegen. Das heißt, dass die besten Armenier*innen für die fortschrittlichen Türk*innen diejenigen sind, die sich den Ansichten der Mehrheitsgesellschaft unterwerfen und deren strukturelle Übergeordnetheit akzeptieren.

“Heute existieren die Armenier*innen durch die Leerstellen, die sie hinterlassen haben – dies zu begreifen an sich ist sehr wichtig.”

Falls Forderungen zu stellen sind, stellen die besten Armenier*innen sie auf die Art und Weise, wie die Mehrheit es vorsieht und es für richtig hält. Die besten Armenier*innen sind also diejenigen, die man mit der epistemischen Form von Gewalt erneut zum Opfer machen kann.

DY: Was du beschreibst, ist eine zutiefst im Kolonialismus und der von ihm hervorgebrachten Politik verankerte Situation. Zuletzt konnten wir dies in dem von weißen „kritischen“ Kreisen viel gelobten Film Roma sehen. Das indigene Volk Mexikos, welches einem Massaker zum Opfer gefallen ist, gewinnt in der Rolle eines schweigsamen Dienstmädchens Sympathien. Würde sie jedoch die Stimme erheben, wäre der Zauber gebrochen und nicht nur Konservative, sondern auch ein Teil der Linken würde Anstoß daran nehmen.

Wie du schon sagtest, ist die für passend erachtete Existenzform der Überlebenden die des „Opfers“, die der Stummheit und des sich Fügens in die Übergeordnetheit der Täter-Nachfahr*innen. Du hebst in deinem Buch auch Themen hervor, deren Erforschung du für wichtig hältst, die jedoch noch nicht bearbeitet beziehungsweise noch nicht ausreichend besprochen worden sind.

Zu diesen zählen auch die Beziehungen von Kurd*innen und Armenier*innen zur Zeit des Osmanischen Reiches. Du sagst, es sei wichtig, zu sehen, wie die osmanischen Herrschaftseliten diese Beziehungen gehandhabt haben. Eigentlich sind zur Hamidiye-Kavallerie und zur Rolle, die die Kurd*innen im Genozid an den Armenier*innen gespielt haben, bereits wichtige Forschungsarbeiten geleistet worden.

Jedoch ist dein Anliegen, soweit ich es verstehe, über diese hinauszugehen, das heißt, zu versuchen, die „Gouvernementalität“ des Reiches zu verstehen, indem man dessen Umgang mit den armenisch-kurdischen Beziehungen betrachtet. Habe ich dein Anliegen richtig verstanden? Warum ist es deines Erachtens wichtig, diese Beziehungen oder, konkreter ausgedrückt, das Dreieck der osmanischen Eliten, der Kurd*innen und der Armenier*innen, zu betrachten?

TS: Ja, genau das sage ich. Wenn die Historiografie kein Gebiet ist, in dem sich Gut und Böse im „nationalistischen Rausch“ gegenüberstehen, wenn der Kausalzusammenhang von Beziehungen und strukturelle Veränderungen in unserem geschichtlichen Denken von Bedeutung sind, dürfen wir die Geschichte nicht ausschließlich von ihrem Ende her denken.

Betrachten wir die Hamidiye-Kavallerie, ohne deren bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichende Voraussetzungen zu sehen, liegt die Vermutung nahe, dass ihre Gründung einen wichtigen Hintergrund für den Genozid darstellen würde. Ein wichtiger Teil der Volksstämme, die Mitglieder in der Hamidiye-Kavallerie waren, war 1915 aktiv. Ja, es gab unter ihnen sogar Kinder, die man in die Stammesschulen schickte. Die osmanische Verwaltung hielt es also für wichtig, den Kindern kurdischer Stammesführer eine osmanische Schulbildung angedeihen zu lassen.

Man sah die kurdischen Stämme folglich nicht lediglich als bewaffnete Einzelmacht, sondern gleichzeitig auch als Verwaltungskader, welcher die Interessen des Reiches vertreten oder diesem wenigstens als Vermittler dienen konnte, und erachtete sie somit für bedeutsam. Das Ergebnis dieses Projekts hängt nicht von dessen letztlichem Erfolg ab, sondern von der Motivation und der Partizipation. Was aber war der Hintergrund für das alles; was war der Grund dieser Organisation?

Meist wird auf diese Frage damit geantwortet, dass das Osmanische Reich aus den verlorenen Kriegen „geschwächt“ hervorgegangen sei und fortan unter der Kontrolle der „imperialistischen westlichen Staaten“ gestanden habe. Es ist kein Zufall, dass die Frage, wie das Osmanische Reich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die eigenen Völker verwaltete und welche Politik es gegenüber den Armenier*innen und Kurd*innen verfolgte, in diesem Narrativ entweder nur sehr lückenhaft oder überhaupt nicht beantwortet wird. Es fällt heute auf, dass zur kurdischen Täterschaft im Zusammenhang mit 1915 immer mehr publiziert wird. Deshalb ist es wichtig, darauf hinzuweisen, wessen Verantwortung diskursiv gemindert wird.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der folgende: In der osmanischen und türkischen Geschichtsschreibung gibt es eine bestimmte Neigung, den historischen Wandel mit Unterbrechungen darzustellen. In der Form und der Periodisierung dieses Narrativs verbirgt sich offensichtlich ein Leugnungsmechanismus.

Beispielsweise erkennen wir in den Dokumenten und Urkunden, die der Staat nach 1946 bezüglich der Armenier*innen anfertigen ließ, dass die betreffende Zeit keineswegs liberal und freiheitlich war. Zu dieser Zeit flohen zahlreiche armenische Intellektuelle der ersten Generation nach dem Genozid außer Landes, andere wurden festgenommen. Die Armenier*innen und somit auch die Türkei verloren auf diese Weise ein zweites Mal einen großen Teil ihrer Intellektuellen. – Auch stellte die vorherrschende Literatur zur Tanzimat dieses über Jahre hinweg nicht als Bemühungen zu einer Neuordnung dar, sondern vor allem als Zeit der Reformen.

“In der osmanischen und türkischen Geschichtsschreibung gibt es eine bestimmte Neigung, den historischen Wandel mit Unterbrechungen darzustellen. In der Form und der Periodisierung dieses Narrativs verbirgt sich offensichtlich ein Leugnungsmechanismus.”

Spricht man über die Modernisierung der Türkei, so wird deren Beginn immer mit der Tanzimat gleichgesetzt. Dies ist dadurch bedingt, dass Modernisierung stets in der Logik von „Reformen“ definiert wird. Vor dem Erscheinen des Werkes Der verpasste Friede von Hans-Lukas Kieser im Jahr 2000 wurde in einem ausschließlich auf Istanbul zentrierten Narrativ zur Tanzimat insbesondere der Osten des Reiches kaum thematisiert.

Indes war diese Epoche eine Zeit, in der auf dem heutigen türkischen Staatsgebiet die Bodenverteilung und die Stammesbeziehungen den Armenier*innen eine Entwicklung von Landwirtschaft und Viehzucht unmöglich machten, in der das Einfordern von Rechten trotz der neuen Möglichkeiten, die die Tanzimat bot, praktisch unmöglich wurde, die Familie als gesellschaftliche Kernorganisation innerhalb der armenischen Gesellschaft vollständig umgekrempelt und das Leben in armenischen Dörfern zunehmend erschwert und sogar unmöglich gemacht wurde; in der die Armenier*innen aufgrund von Hungersnöten zur Massenemigration gezwungen wurden und in der Änderungen der Verwaltungseinheiten verschiedenartigen neuen Problemen den Weg freimachten.

Betrachten wir daher anstelle der balkanischen oder arabischen Provinzen das Gebiet der heutigen Türkei und somit auch die Ostprovinzen, in denen die Armenier*innen durch die Machtbeziehungen zwischen Kurd*innen und dem Staat zerrieben wurden, so können wir sehen, wie man in den „prächtigsten“ Jahren des 19. Jahrhunderts auf dem heutigen Staatsgebiet der Türkei gelebt hat. Ja, wenn wir uns ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, wie es zu 1915 kommen konnte, müssen wir uns den Fragen, wie die Osmanen seit spätestens der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Informationen über ihre Völker sammelten, wie sie jene verwendeten und welche Rolle die neu ins Leben gerufenen Verwaltungseinheiten und -formen spielten, aus einer Perspektive nähern, die über die hier erläuterte vorherrschende Forschungsliteratur hinausgeht.

Wir können sagen, dass die 1890er die Jahre waren, in denen sich in aller Härte zu zeigen begann, dass alle bis zu diesem Zeitpunkt geführten Kämpfe um Gleichheit und Gerechtigkeit sowie das Einfordern des Rechts ergebnislos geblieben waren und dass beispielsweise die Hamidiye-Kavallerie vielmehr als Ergebnis all dessen denn als Grund anzusehen ist.

DY: Könntest du genauer erläutern, was du unter dem „nationalistischen Rausch“ verstehst?

TS: Völkermorde lediglich als Nationalismus zu erklären, verleugnet die sehr tiefgreifenden strukturellen und historischen Transformationsprozesse. Im Narrativ von den nationalistischen Türk*innen, den nationalistischen Kurd*innen und den nationalistischen Armenier*innen wären alle gleichermaßen beteiligt, und das Ergebnis ist ein multikulturelles „Fast Food“, in dem die Verantwortung des Staates auf alle Seiten aufgeteilt und der Nationalismus verdammt wird. Der Genuss dieses Fast Foods ist nicht nur leichtverdaulich, er entspricht auch den Interessen aller Beteiligten.

“Völkermorde lediglich als Nationalismus zu erklären, verleugnet die sehr tiefgreifenden strukturellen und historischen Transformationsprozesse.”

Nationalismus ist schlecht, kann leicht verdammt werden, und es herrscht ein umfassender Konsens darüber, dass man sich extremen Nationalisten entgegenstellen müsse. Gleichzeitig anerkennt man den Nationalismus, der in der Gründungsideologie des Nationalstaates steckt und unter dessen Einfluss ein bedeutender Teil der Weltbevölkerung lebt, als Notwendigkeit und verbirgt ihn somit hinter einer Anziehungskraft und Potenz, denen unter dieser Perspektive nichts entgegenzusetzen ist.

Folglich sollen wir das „böse Gesicht“ des Nationalismus bekämpfen und uns mit seinem „guten Gesicht“, das in einem Staat resultiert, aussöhnen. Dadurch lassen sich Völkermorde, rassistische Überfälle und systematische Diskriminierungen allesamt dem „bösen Gesicht“ des Nationalismus zuschreiben. Seine Bedeutung wird somit ebenso mit Leichtigkeit übergangen wie die Vielschichtigkeit des Völkermordes, zu dessen Merkmalen strukturelle und koloniale Formen von Verwaltung und Gewaltausübung gehören.

Auf diese Weise wird die Kontinuität in Struktur und Verwaltung beim Übergang von der Imperium zum Nationalstaat verdeckt. Dass man parallel dazu das Narrativ eines einmal gewesenen Zusammenlebens in Frieden und Eintracht verwendet, ist kein Zufall. Selbst wenn der Nationalstaat nicht tatsächlich demokratisch und egalitär ist, lässt sich die Hypothese, dass er so hätte sein können, in der Rückschau einsetzen. Die Legitimität des Nationalstaates bleibt somit unangetastet.

Gleichzeitig dient die Darstellung des Nationalismus als eine Art unausweichlicher Notwendigkeit, sozusagen als Zeitgeist, dazu, die Risiken, die mit seinem bösen Gesicht zum Vorschein kommen, zu integrieren und in gewisser Weise zu legitimieren. Indem diese Legitimierungspraxis stetig in die Machtbeziehungen eingreift, die sich hinter den gesellschaftlichen Umwälzungen verbergen, verhindert sie, dass sie sichtbar werden, und macht ihre Erforschung unmöglich. Denn aus der Sicht derjenigen, die die Legitimität etablieren und immer wieder von Neuem propagieren, ist klar, dass ein Prozess mit einer derart radikalen Folge wie dem Völkermord die Legitimität, die ja ihre Macht aufrechterhält, infrage stellen würde.

Indem die Vorstellung, von der ich spreche, lebendig gehalten und jene Legitimität kontinuierlich wiederhergestellt wird, erhalten der Staat, der das Verbrechen organisiert und legitimiert hat, die Massen, die an dem Verbrechen beteiligt waren, die Strukturen, die es begünstigten, die Mittel, die zur Durchführung des Verbrechens herangezogen wurden, die Orte des Verbrechens, die Maßnahmen, die noch vor der Entscheidung, das Verbrechen tatsächlich begehen zu wollen, getroffen wurden, sowie das Sammeln von Informationen und Erfahrung nahezu Absolution. Letztlich wird der Habitus, der dieser Absolution und Legitimierung zugrunde liegt, zum Garanten der Leugnung, indem er dafür Sorge trägt, dass diese Tag für Tag von Neuem generiert wird.

In diesem Narrativ kann sogar das Opfer im Zusammenhang mit dem Nationalismus gesehen und so zum Täter gemacht werden; die rechtliche, politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Existenz, die bereits gegeben war, bevor sie zum kollektiven Opfer wurde, wird innerhalb eines nationalistischen Rahmens neu interpretiert. Da es undenkbar ist, sich an einem physisch bereits nicht mehr existenten Ort Gehör zu verschaffen, erhebt niemand Einspruch gegen dieses Narrativ.

DY: Alles, was du sagst, ist sehr wichtig. Du sagst, es sei maßgebend, die strukturellen Gründe für den Genozid zu verstehen. Diese und auch die Art und Weise, in der die Struktur fortdauerte und neu hergestellt wurde, sind äußerst bedeutsam.

Ein Aspekt ist hierbei, wie du in deinem Buch häufig betonst, die Leugnung. Indem die Leugnung über die Überlebenden hinweggeht, ja diese in gewisser Weise eliminiert und mundtot macht, sorgt sie dafür, dass die strukturellen Beziehungen und die mit ihnen entstandenen politischen Gegebenheiten fortdauern. Indem der Nationalismus an sich verantwortlich gemacht wird, werden die Armenier*innen, wie du es sehr schön ausdrückst, mit einem Nationalismus umhüllt, der einer von vielen Nationalismen war.

Gleichzeitig stellt dieser scheinbar kritische und egalitäre Standpunkt die Armenier*innen mit allen anderen Identitäten in der Türkei auf eine Stufe. Dieser Standpunkt verdeckt zudem, dass die Armenier*innen über die Wahrheit über den Genozid am besten Bescheid wissen und damit auch über den türkischen Staat und sein Zustandekommen.

TS: Die Überlebenden waren die Generation, die am besten über dieses Land Bescheid wusste. Ohnehin sollte durch die Vertreibung Armenier*innen, die in den Provinzen überlebt hatten, nach Istanbul verhindert werden, dass dieses Wissen in den Provinzen bleiben und im täglichen Leben fortbestehen würde. Die Armenier*innen, die zur Umsiedlung nach Istanbul gezwungen wurden, bildeten dort eine stets sichtbare Gruppe, die von der Mehrheitsgesellschaft überwacht werden konnte; es gab dort kommunale Mechanismen und staatliche Institutionen: Diese Konstellation war sicherer als die unheilversprechende in den Provinzen.

Diejenigen, die 1915 entschieden hatten, dass die Armenier*innen in der Wüste leben können würden, beschlossen also nach 1923, dass die Armenier*innen lediglich in einem Panoptikum leben können sollten. Hier hätten die Intellektuellen der Mehrheitsgesellschaft einfache Fragen stellen können, zum Beispiel: Wenn die Armenier*innen eines der anatolischen Geschwistervölker waren, warum befanden sich die Überlebenden des Völkermordes dann in Istanbul? Warum erweckte die Tatsache, dass alle Armenier*innen in Istanbul zusammengepfercht waren, nicht den Argwohn der Bevölkerung? Oder: Wenn mit dem Vertrag von Lausanne ihre Rechte geschützt würden, warum gab man den Armenier*innen dann nicht die Erlaubnis, ihre Schulen, Klöster und Kirchen in Kayseri, Yozgat, Malatya, Muş und an anderen Orten zu gründen?

DY: Das sind sehr wichtige, fruchtbare Anmerkungen und Fragen. Du sagst, die Armenier*innen, die in den Jahren nach dem Völkermord aus den Provinzen nach Istanbul gingen, hätten in der sozialen Hierarchie den niedrigsten Platz eingenommen. Diese Menschen beziehungsweise Familien waren Zeug*innen der grausamsten Gewalt geworden, die man in dieser Welt erfahren kann, sie hatten dem Tod ins Auge geblickt, anschließend waren sie der Gewalt der Ateşoğlu-Yıldırım-Banden ausgesetzt, man hatte ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die Welt zur Hölle gemacht.

Nachdem man sie dazu gezwungen hatte, die Provinzen zu verlassen und sich in Istanbul anzusiedeln, fanden sie sich in einer Welt wieder, in der sie sowohl der Stadt als auch der dortigen armenischen Community fremd waren. Sie waren zudem verarmt; und die Tatsache, dass sie überlebt hatten, war einem Zufall zu verdanken.

Walter Benjamin weist uns darauf hin, dass wir, wenn wir die Vergangenheit und die Gesellschaft verstehen wollten, unsere Aufmerksamkeit den Unterdrückten schenken müssten, deren Stimme nie gehört wurde.

Im ersten Kapitel deines Buches vermittelst du uns die Stimmen der Armenier*innen in Istanbul, in Gedikpaşa, in den Schustereien, vermittelst uns die Stimmen derjenigen, die aus den Provinzen gekommen waren, die den Türk*innen und den Armenier*innen Istanbuls fremd waren und die ihre Sprache verloren hatten. Was sagen uns die Geschichten der Menschen, die ganz unten in der gesellschaftlichen Hierarchie stehen, über die Gesellschaft der Türkei?

TS: Wenn wir uns auf den von Benjamin skizzierten Weg begeben und einen Schritt über diesen hinausgehen, wenn wir dazu bereit sind, uns mit der unbegreiflichen Erfahrung derer auseinanderzusetzen, die am Leben geblieben sind, eröffnet sich uns eine vollkommen neue Sicht auf die Welt.

Die Auswirkungen dieses Bewusstseins sind in beinahe allen Bereichen des Lebens vernehmbar: Unsere Wahrnehmung, unser Empfinden, die Quellen, die wir konsultieren, und unser Verständnis derselben, kurz unser Weltbild und unsere Art zu leben verändern sich. Wenn wir die Überlebenden in den Fokus unserer Forschung stellen, tragen wir damit zu keinem politischen Programm etwas bei, wir dienen damit keinem Staat, wir bieten niemandem einen komfortablen Rahmen, wir erfüllen keine einzige Bedingung irgendeiner Machtbeziehung.

Allerdings wären wir in der Lage, die schwierigste Erfahrung des Menschseins zu betrachten, und wir würden den Versuch unternehmen, damit umzugehen; wir würden somit zu Millionen von Menschen eine Brücke schlagen, denen der Wille genommen worden war und deren Beziehung zu sich selbst zerrissen. Gleichzeitig hilft es uns dabei, eine solche vernichtende Instanz zu begreifen und alles vermeintlich Legitime zu hinterfragen. Die Überlebenden unterscheiden sich von den „Subalternen“.

Unser Ziel kann nicht einmal sein, dass wir zu ihrer Stimme werden, wie es in den Subaltern Studies der Fall ist, denn die Überlebenden sind gewissermaßen die Engel der Geschichte; wir können sie betrachten, die Katastrophe, die sich vor ihnen auftürmt, können wir ins Hier und Jetzt holen, aber wir können nicht für sie sprechen, wir können keine einzige Katastrophe erleben, die sie erlebt haben. Die Überlebenden in das Zentrum der Forschung zu stellen, bedeutet folglich, über die Subalternen hinauszugehen. Ist dies nicht das, was die Völker einer von Krieg, Völkermord, Vertreibung und Rassismus beherrschten Region brauchen?

Nach 1922 war Istanbul zu einem Ort der Immigration geworden. All jene Überlebenden, die zum Verlassen der Provinzen gezwungen worden waren, die bedroht wurden, deren Eigentum man beschlagnahmt hatte, denen man angedroht hatte, ihre Töchter zu verschleppen, strömten nun in Scharen nach Istanbul. Damit sie diese Reise überhaupt auf sich nehmen konnten, mussten sie die erforderlichen Bedingungen schaffen. Nicht alle konnten sich einfach auf den Weg machen.

Da viele der überlebenden Frauen bereits zwangsislamisiert worden waren, verblieben diese zumeist in den Provinzen. Diejenigen, die es nach Istanbul schafften, erwartete dort in den sogenannten Kaghtagan-Zentren ein Leben auf engstem Raum, das Wochen, Monate, ja sogar Jahre andauern konnte. Von ihrem Leben vor 1915 war nichts übrig geblieben; von ihren Familien verblieben keine Spuren. Wir reden hier von Menschen, denen alles genommen worden war und deren Überleben an die Bedingung geknüpft war, jede Verbindung zu sich selbst und zu ihrer Identität kappen zu müssen.

Bis zum Ende der 1930er-Jahre bemühten sich die Armenier*innen Istanbuls um den Fortbestand der Kaghtagan-Unterkünfte. Doch auch in den 1940er-, 1950er-, 1960er-Jahren und in der Zeit danach, nachdem diese Zentren längst geschlossen worden waren, hörte die Migration nicht auf. Man versorgte die Menschen, die weiterhin aus den Provinzen emigrierten, mit Nahrung und mit Wohnraum, doch man erwartete von ihnen, dass sie auf eigenen Füßen stehen würden.

Insbesondere diejenigen, die kein Armenisch sprachen – denn nachdem die armenischen Schulen geschlossen worden waren und nicht wiedereröffnet werden durften, sprach die Mehrheit der jüngeren Generation lediglich Kurdisch und Türkisch, als sie nach Istanbul kam –, brauchten Jahrzehnte, bis sich ein normalisiertes Verhältnis mit den Istanbuler Armenier*innen gebildet hat. Doch zwischen ihnen gab es nicht ein sprachliches Problem, sondern der Unterschied war der zwischen den Lebenden und den Überlebenden.

Natürlich wussten die Istanbuler Armenier*innen, was geschehen war; viele von ihnen hatten Verwandte verloren; die gesamte armenische Intelligenzija, die in Istanbul gelebt hatte, war deportiert und ermordet worden. Für Armenier*innen gab es keinen sicheren Ort mehr, auch Istanbul war kein solcher.

Aber jenseits von diesen Tatsachen gab es auch Folgendes: Die Armenier*innen in den Provinzen lebten in „Yergir“, also in ihrer historischen Heimat, die sie seit Generationen bewohnt haben. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kannte man sie als migrantische Arbeiter*innen, als „Bantukhd“. Diese waren Menschen, denen ein Klären ihrer Angelegenheiten vor Ort verwehrt war und die diese deswegen in Istanbul zu erledigen suchten. Die Istanbuler Armenier*innen wussten weder von den Dynamiken in den Dörfern noch vom dortigen Alltag oder davon, was es heißt, unter diesen Umständen das Leben zu meistern. Zu verstehen, was dies bedeutet, dauerte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.

Nehmen wir zum Beispiel den Schriftsteller Hagop Mıntzuri , der nur durch Zufall überlebte, während er seine gesamte Familie 1915 verlor. Er war wegen einer Mandeloperation nach Istanbul gereist und konnte danach nicht mehr zurückkehren. Sein restliches Leben widmete er dem Schreiben über das Dorfleben, um dieses, auch wenn es nicht mehr existierte, so doch in der Literatur festzuhalten. Man sollte seine Schriften vielleicht auch in diesem Rahmen lesen.

Istanbul bedeutete für viele, die aus den Provinzen kamen, neue Sorgen, neue Entbehrungen, neue Schwierigkeiten und neue Kämpfe ums Überleben. Als man verstand, dass Istanbul kein Allheilmittel war, ergriff ein bedeutender Teil dieser Zugezogenen die erstbeste Gelegenheit, in ein anderes Land auszuwandern. Beispielsweise wanderten viele der überlebenden Armenier*innen in die USA, nach Kanada oder als Arbeitsmigranten nach Deutschland aus.

Auch während meiner gesamten Schulzeit wanderten immer wieder Klassenkamerad*innen mit ihren Familien aus. Der gemeinsame Nenner dieses fortdauernden Exils, also des Kaghtagan-Daseins, war die Tatsache, dass diese Menschen, wohin sie auch gingen, auf niemanden trafen, der sich dafür interessierte, was sie durchlebt hatten und was die Dinge bedeuteten, die ihnen widerfahren waren. Diejenigen, die vor der Gründung der Republik dazu gezwungen worden waren, das Land zu verlassen, befanden sich in der gleichen Situation und teilten das Schicksal der Folgegenerationen.

“Die Angehörigen der Überlebendengeneration blieben, wohin sie auch gingen, sei es nach Istanbul, in die USA oder in ein anderes Land, Überlebende; niemand interessierte sich dafür, was es hieß, ein Mensch zu sein, dem die Heimat, die Familie, ja sogar das Selbst genommen worden war, also unsichtbar und ungesehen zu sein beziehungsweise dazu gemacht worden zu sein.”

So ging für sie das Leben voller Verluste in Gebieten weiter, die ihnen völlig unbekannt waren, deren Sprachen sie nicht sprachen, über deren Gepflogenheiten sie nicht Bescheid wussten und in denen sie auch keinerlei Rechte besaßen. Für viele von ihnen gab es jahrzehntelang keine staatliche Vertretung, keine Instanz, an sie sich wenden konnten für die einfachsten bürokratischen Angelegenheiten.

Die Angehörigen der Überlebendengeneration blieben, wohin sie auch gingen, sei es nach Istanbul, in die USA oder in ein anderes Land, Überlebende; niemand interessierte sich dafür, was es hieß, ein Mensch zu sein, dem die Heimat, die Familie, ja sogar das Selbst genommen worden war, also unsichtbar und ungesehen zu sein beziehungsweise dazu gemacht worden zu sein. In dieser Unsichtbarkeit und diesem Nicht-gesehen-Werden steckt die Katastrophe, die sie erfahren haben und die wir nicht sehen konnten.

DY: Eine Katastrophe, auf die der Engel der Geschichte verwundert starrt, und mit der fortschreitenden Gewalt versucht man so zu tun, als hätte sie nicht stattgefunden … Vielen Dank, liebe Talin, dass du in diesem Buch einen Teil der in Stücke zerfallenen Wahrheit wieder hast zutage treten lassen.

[Title Image by VahanN via Getty Images]

Deniz Yonucu

Dr. Deniz Yonucu ist Assistant Professor für Soziologie an der Newcastle University.

Talin Suciyan

PD Dr. Talin Suciyan ist Akademische Oberrätin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

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