„In beiden Weltkriegen erwiesen sich Sicherheit und Freiheit oft als Gegensätze”: Arnd Bauerkämper im Interview

Diskriminiert, interniert, deportiert. Die Angst vor dem vermeintlichen „inneren Feind“ beherrschte beide Weltkriege und ist doch nicht nur ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Der Historiker Prof. Dr. Arnd Bauerkämper befasst sich mit dem Status von Feindstaatenangehörigen in Zeiten des Ausnahmezustands.

Dieses Interview wurde erstmals auf L.I.S.A., dem Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung veröffentlicht und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung der L.I.S.A. Redaktion.

Kriegführende Staaten stehen vor dem Problem, wie sie mit Angehörigen von Feindstaaten im eigenen Herrschaftsbereich umgehen sollen. Welche Gefahr geht von „feindlichen Ausländern” für die innere Sicherheit aus, welche Sicherheitsmaßnahmen werden erhoben, wie viel Freiheit wird noch gewährt?

In der Geschichte findet man zahlreiche Fälle, in denen Feindstaatenangehörige als innerer Feind markiert oder gar in Lager gesteckt wurden – auch in demokratisch verfassten Staaten. So hatten beispielsweise die USA im Zweiten Weltkrieg bis zu 120.000 japanischstämmige US-Bürger zwangsumsiedeln und internieren lassen. Ein typischer Fall?

Der Historiker Prof. Dr. Arnd Bauerkämper von der Freien Universität Berlin hat den Umgang mit Feindstaatenangehörigen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg intensiv erforscht und seine Ergebnisse zuletzt in zwei Bänden publiziert. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.

L.I.S.A.: Herr Professor Bauerkämper, Sie haben jüngst Ihr neuestes Werk in zwei Bänden vorgelegt. Es geht dabei, wie der Titel schon sagt, um Sicherheit und Humanität im Ersten sowie im Zweiten Weltkrieg. Dabei geht es konkret um den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Ausnahmezustand. Bevor wir zu einigen Einzelheiten kommen, woher stammt Ihr Interesse an diesem Thema? Welche Vorüberlegungen gingen dieser Forschungsarbeit voraus?

„Es dominierte ein teilweise extremes Sicherheitsdenken.”

Arnd Bauerkämper: Die Idee entstand unter dem Eindruck der Kontroversen über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Ich habe mich dann intensiv mit den beiden Weltkriegen in den Erinnerungskulturen europäischer Staaten befasst und dazu 2012 auch ein Buch veröffentlicht (Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschis­mus und Krieg in Europa seit 1945). Dabei fiel mir auf, dass vor dem Aufstieg der Menschenrechte zu einer wichtigen Kategorie in der politischen, gesellschaftlichen und juristischen Diskussion oft von Geboten der Humanität gesprochen wurde. Zugleich wurde mir bei der Vorbereitung eines Vortrages, den ich 2014 an der Universität Zürich hielt, klar, dass zivilgesellschaftliche Strukturen und Normen im Ersten Weltkrieg zwar schwer beschädigt wurden, aber keineswegs vollständig verschwanden. Vielmehr traten humanitäre Aktivisten und gelegentlich auch Politiker, Diplomaten und Beamte für die Rechte von Kriegsopfern ein. Jedoch dominierte letztlich ein teilweise extremes Sicherheitsdenken, dass zur Unterdrückung „innerer Feinde“ (darunter auch eigener Staatsbürger) führte. Diese Befunde und Einsichten sind dann in das Buch eingeflossen, dessen Niederschrift ich 2017/18 während der mir von der Gerda Henkel Stiftung verliehenen Gastprofessur am Deutschen Historischen Institut London und an der London School of Economics kräftig vorantreiben konnte.

L.I.S.A.: Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Ausnahmezustand ist kein Phänomen nur des 20. Jahrhunderts. Man kann weit in die Geschichte zurückblicken und man würde immer wieder auf die Praxis stoßen, dass in Kriegen Zivilisten als Angehörige des Feindes ausgemacht wurden und deshalb einen gesonderten Status erhalten haben, beispielweise als „innerer Feind“ Stigmatisierte und Diskriminierte, als Internierte, als Deportierte oder sogar als dem „Volkszorn“ Ausgesetzte. Was aber ist nun das spezifisch Moderne an diesem Status?

AB: Der Erste und – noch umfassender – der Zweite Weltkrieg erstreckten sich nicht nur auf die Kampffronten, sondern bezogen auch Zivilisten in den beteiligten Staaten in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß ein. Um die „Heimatfront“ zu stabilisieren, galten umfassende Sicherheitsmaßnahmen gegenüber „inneren Feinden“ weithin als völlig legitim und gerechtfertigt. Angst als mächtige Emotion kennzeichnete in Verbindung mit Aggressivität das Vorgehen vieler Regierungen, die damit Angehörige gegnerischer Staaten, aber auch eigene Minderheiten und Kriegsgegner überwachten, unterdrückten oder – wie im Fall der Armenier im Osmanischen Reich 1915/16 – sogar ermordeten. Die wichtigste Form der Repression war neben der Gefängnishaft aber die Internierung in Lagern, die erst in den letzten zwei Jahrzehnten vor 1914 bereits auf Kuba (von Spanien), in Südafrika (von Großbritannien) und auf den Philippinen (von den USA) errichtet und erprobt worden waren. Hinzu kam, dass zivile Feindstaatenangehörige im wehrfähigen Alter nach der Durchsetzung der Wehrpflicht seit dem späten 18. Jahrhundert potentieller Soldaten gegnerischer Länder waren. Das Ziel, diese Männer im eigenen Land festzuhalten, war deshalb oft der erste Impuls für die Internierung von Angehörigen der Feindstaaten.

L.I.S.A.: Ihre Studie bietet zwei große Achsen des Vergleichs an: eine entlang der Unterscheidung in Erster und Zweiter Weltkrieg und eine andere entlang unterschiedlicher Staaten und deren Praktiken im Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen. Bleiben wir zunächst und in Anschluss an die vorherige Frage zu den zeitlichen Achsen. Was unterscheidet den Umgang mit dem „inneren Feind“ im Zweiten Weltkrieg von dem im Ersten? Gibt es da eine prinzipielle Verschiebung, und welche Rolle spielt dabei die Art der Kriegsführung? Könnten Sie das vielleicht an einem oder zwei Beispielen erläutern?

„Der Druck zu Repressionsmaßnahmen gegen alle ‚inneren Feinde‘ ging sowohl von den Machthabern und Eliten als auch von breiten Gesellschaftsgruppen aus.”

AB: Zweifellos war das Vorgehen gegen zivile Angehörige gegnerischer Staaten und auch anderer „innerer Feinde“ im Zweiten Weltkrieg rigoroser als in den Jahren von 1914 bis 1918. Die systematische und gezielte Ermordung der Juden ist dafür das wohl klarste Beispiel. Aber extreme Gewalt gegen Zivilisten hatte schon den Ersten Weltkrieg gekennzeichnet, wie der Genozid an den Armeniern zeigt. In geringerer Radikalität traten pogromartige Ausschreitungen gegen zivile Feindstaatenangehörige, die oft mit Minderheiten im eigenen Land assoziiert wurden, auch in anderen kriegführenden Staaten auf, so in Russland 1915 bzw. in der Sowjetunion und in Großbritannien in den beiden Weltkriegen. In den USA wurden im Ersten Weltkrieg besonders Deutsche und 1941/42 vor allem rund 110.000 Japaner interniert. Oft gingen Regierungen besonders in Phasen gesteigerter Bedrohungswahrnehmungen (besonders nach schweren militärischen Niederlagen) gegen „innere Feinde“ vor. Der Druck zu Repressionsmaßnahmen gegen alle „inneren Feinde“ ging sowohl von den Machthabern und Eliten als auch von breiten Gesellschaftsgruppen aus. Politische Unterdrückung „von oben“ (so durch Polizeibehörden und Geheimdienste) und fremdenfeindliche Mobilisierung „von unten“ kennzeichneten den Prozess, in dem „Sicherheit“ ein zentrales Argument, oft aber auch ein Vorwand zur Durchsetzung eigener Interessen war.

L.I.S.A.: Der zweite grundsätzliche Vergleich, den Sie in Ihrer Untersuchung vornehmen, ist der zwischen einzelnen Staaten. Lässt sich hier möglicherweise einiges mit Blick auf den Umgang mit Feindstaatenangehörigen clustern? Sind Muster erkennbar, nach denen beispielsweise Demokratien andere Standards befolgen als Diktaturen? Ist das pauschal so feststellbar? Und: Wie sieht es in Demokratien aus, die über Kolonien bzw. über ein Kolonialreich verfügen? Doppelte Standards?

AB: Die Befunde zu diesen Fragen sind komplex. Einerseits standen demokratisch gewählte Regierungen trotz der Einschränkungen von Bürgerrechten und öffentlicher Diskussionen – in der Regel durch Ausnahmegesetze, die zu Kriegsbeginn erlassen wurden – unter höherem Rechtfertigungsdruck, sowohl gegenüber neutralen Schutzmächten als auch gegenüber internationalen humanitären Organisationen wie dem 1863/64 gegründeten internationalen Roten Kreuz. Sogar im Deutschen Reichstag und österreichischen Reichsrat (nach dessen Wiedereinberufung 1917) stellen einzelne Abgeordnete kritische Fragen im Ersten Weltkrieg nach der Politik der autoritären Regierungen in den beiden Monarchien gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen und verdächtigten Minderheiten. Dies unterblieb dagegen in den Diktaturen Hitlers, Stalins und Mussolinis.

Andererseits standen Regierungen, die trotz aller Einschränkungen nicht unkontrolliert politisch agieren konnten, unter einem hohen Rechtfertigungsdruck gegenüber ihren Bevölkerungen. Sie mobilisierten deshalb wiederholt fremdenfeindliche Vorurteile gegen Feindstaatenausländer und Angehörige von Minderheiten oder schritten erst konsequent gegen Übergriffe ein, als randalierende Gruppen das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellten. Das Vorgehen gegen Japaner und Amerikaner japanischer Herkunft, das in den USA im Zweiten Weltkrieg auf rassistischen Vorurteilen gründete, ist ein offenkundiges Beispiel für diese Anfälligkeit auch von Demokratien. Erst seit 1988 können Opfer der Zwangsumsiedlung eine Entschädigung beantragen, und Präsident George Bush entschuldigte sich 1992 offiziell bei den Betroffenen und ihren Nachkommen. In den Kolonien war das Vorgehen gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch von gegenseitiger Rücksichtnahme gekennzeichnet. Rassistisch motivierte Appelle der kriegführenden Regierung an die Solidarität der gegnerischen Nationen mit allen weißen Staatsangehörigen in den überseeischen Territorien verhallten aber bald. Letztlich erwies sich der extreme Kriegsnationalismus als stärker.

L.I.S.A.: Ein Blick noch auf die Akteure im Umgang mit Feindstaatenangehörigen: Dass staatliche Institutionen in Ausnahmesituationen beim Umgang vor allem aus der Perspektive der inneren Sicherheit agieren, leuchtet gleich ein und überrascht nicht. Konnten Sie aber auch zivilgesellschaftliche Akteure ausmachen, die sich für die Interessen der „inneren Feinde“ einsetzten und sich dabei auf die humanitas beriefen? Falls ja, wer waren diese Akteure?

AB: Zunächst sind Aktivisten der internationalen humanitären Organisationen und Schutzmächte zu erwähnen, die Angehörige der jeweiligen gegnerischen Staaten (Zivilisten, aber auch Kriegsgefangene) gegenüber den jeweiligen Gewahrsamsmächten vertraten. So setzten sich skandinavische Staaten im Ersten Weltkrieg für die Interessen von Deutschen im Zarenreich ein, und die Schweiz war 1943/44 Schutzmacht für 35 Staaten. Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) unterstützte zivile Feindstaatenangehörige. Dagegen hatte es kein Mandat für den Schutz eigener ziviler Staatsangehöriger, die in den kriegführenden Ländern verfolgt wurden. Zudem war das IKRK auf die Mitarbeit seiner nationalen Sektionen angewiesen, die in vielen Ländern eng an die jeweiligen Regierungen gebunden waren. Politische Kompromisse erschienen deshalb unumgänglich. So lehnte die Führung des IKRK im Herbst 1942 aus Rücksichtnahme auf die Gefangenen im „Dritten Reich“ einen öffentlichen Protest gegen die Ermordung der Juden ab, obwohl sie klare Informationen über den Holocaust erhalten hatte. Auch die Quäker (Religious Society of Friends), die sich – ebenfalls neben den Kriegsgefangenen – für Zivilinternierte engagierten, nahmen auf die Interessen und Politik der Regierungen Rücksicht. Dies traf auch für Kritiker in den einzelnen Ländern zu. Sie begründeten ihren Einsatz für Feindstaatenangehörige oft utilitaristisch. Dazu gehörten besonders in Demokratien wie Großbritannien Hinweise auf die humanitären Werte, für deren Durchsetzung

L.I.S.A.: Seit dem 20. Jahrhundert – ein Jahrhundert auch der Demokratisierung und der Institutionalisierung von universellen Menschenrechten – wird wiederholt über das Spannungsverhältnis aus dem Bedürfnis nach Sicherheit einerseits und dem Anspruch auf Freiheit und Humanität andererseits gestritten. Das hört sich dann oft so an: Wer mehr Sicherheit fordert, kann dies nur auf Kosten von Freiheit und Humanität tun und umgekehrt. Mehr Freiheit bedeutet weniger Sicherheit, mehr Sicherheit weniger Freiheit. So verstanden haben wir es mit zwei antagonistischen Prinzipien zu tun. Aber muss man das so sehen? Ist nicht auch eine Lesart denkbar, die das eine als die Bedingung des anderen begreift? Mehr Sicherheit gleich mehr Freiheit? Oder bewegen wir uns dann eher in der Rhetorikgefilden von Autoritarismen und Diktaturen?

“Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit ist fortwährend neu zu bestimmen und auszuhandeln.”

AB: Die Gefahr, Sicherheitsrhetoriken von interessierten Kräften aufzusitzen, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, und in den beiden Weltkriegen erwiesen sich Sicherheit und Freiheit tatsächlich oft als Gegensätze. Grundsätzlich ist eine Antinomie aber keineswegs vorauszusetzen. So hat der amerikanische Politikwissenschaftler Clinton Rossiter in seinem schon 1948 veröffentlichen Buch auf der Grundlage von Fallstudien überzeugend argumentiert, dass die Beseitigung einzelner Freiheitsrechte in extremen Notsituationen Demokratien gegen ihre Feinde schützen können – allerdings unter bestimmten Bedingungen wie einer eindeutigen Befristung von Ausnahmezuständen und einer klaren Regelung zu dessen Aufhebung, über die nicht die Regierenden selber entscheiden sollten. Außerdem ist in Rechnung zu stellen, dass die Ausübung von Freiheiten durch Bürgerinnen und Bürgern einen effektiven Sicherheitsrahmen voraussetzt, der nicht zuletzt das staatliche Gewaltmonopol schützt und damit innere Konflikte zähmt. Die Forderung nach Sicherheit ist deshalb grundsätzlich gerechtfertigt, solange grundlegende Freiheits- und Bürgerrechte bewahrt bleiben. Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit ist fortwährend neu zu bestimmen und auszuhandeln, weil sich Kontexte verändern. Letztlich sichern außer einem pluralistischen Institutionensystem historisch-politische Bildung, Mitwirkung am Gemeinwesen und eine wachsame Zivilgesellschaft, dass Forderungen nach mehr Sicherheit jeweils begründet werden müssen, so mit der Verhältnismäßigkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen. Nur damit kann auch in Krisen verhindert werden, dass Sicherheit in Unfreiheit umschlägt.

[Titelbild von Mitchel Lensink via Unsplash]

Georgios Chatzoudis

Georgios Chatzoudis leitet die Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation der Gerda Henkel Stiftung. Er ist Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität zu Köln.

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