Das Werkverzeichnis als Kunstwerk
In einer Ära digitaler Werkverzeichnisse setzt der Künstler Michael Müller mit „Ernstes Spiel – Catalogue Raisonné“ auf gedruckte Opulenz. Durch Farben, Sprachen und das Zusammenspiel von Bild und Text wird das vermeintliche Beiwerk dabei zu einem eigenständigen Gesamtkunstwerk.
Dieser Blogpost ist auch in englischer Sprache verfügbar: “Catalogue Raisonné as Artwork”.
Für Wolfgang Beltracchi, den bekanntesten Kunstfälscher der jüngsten Vergangenheit, waren Werkverzeichnisse von unschätzbarem Wert: Er nahm diese Bücher über namhafte Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts zur Hand, um dort registrierte, aber verschollene und heute unbekannte Gemälde zu finden und diese zu erfinden, ihnen also wieder ein Bild zu geben. So wurden aus verlorenen Werken, angeblich von Max Ernst, Heinrich Campendonk, Fernand Léger oder André Derain, zunächst teuer verkaufte und dann als Fälschungen entlarvte Werke von Beltracchi selbst, die im Grunde genommen Nachahmungen von Klassikern waren.
Für die Kunstwissenschaft insgesamt ist das Werkverzeichnis – auch Œuvre-Katalog oder Catalogue raisonné genannt – ebenfalls von besonderer Bedeutung. Dass es mehrere Begriffe für diese möglichst vollständige Auflistung von Werken einer Person in Form eines Nachschlagewerks gibt und dass diese Synonyme zudem zur Hälfte aus dem Französischen stammen, hat seinen guten Grund.
Paris galt seit dem 17. Jahrhundert als Kulturwelthauptstadt und blieb dies dank seiner diskursprägenden Akademie und Ausstellungskultur für annähernd 300 Jahre. Von hier aus etablierte sich der Catalogue raisonné als wichtiges Beiwerk zum künstlerischen Gesamtwerk, sowohl begrifflich als auch in materieller Gestalt. Zu den schriftlichen Angaben, vornehmlich Art und Ort der Signatur, Titel und Entstehungszeitraum, traten im Laufe der Zeit anfänglich gravierte, später fotografierte Reproduktionen – wenn die Werke überhaupt überliefert waren.
Werkverzeichnisse der Gegenwartskunst
Wäre Beltracchi noch als Fälscher aktiv, hätte für ihn das Werkverzeichnis von Michael Müller keinen Nutzen. Das liegt zunächst einmal daran, dass Müller ein lebender Künstler ist. Ursprünglich waren Werkverzeichnisse posthum erschienene Monografien über besonders bedeutsame Künstler. Erste Beispiele sind Œuvre-Kataloge über Raffael, Cranach oder Dürer aus dem frühen 18. Jahrhundert, die als Echtheitsgaranten der hier registrierten Gemälde dem gestiegenen ökonomischen Interesse des Kunsthandels entgegenkamen.
“Da mittlerweile insbesondere die Gegenwartskunst zum Spekulationsobjekt geworden ist, gewinnen deren Verzeichnisse als authentifizierende Belege zunehmend an Relevanz.”
Da mittlerweile insbesondere die Gegenwartskunst zum Spekulationsobjekt geworden ist, gewinnen deren Verzeichnisse als authentifizierende Belege zunehmend an Relevanz. Sie sind oft derartig sorgfältig und lückenlos in Text und Bild, dass sie ohnehin keine Spielräume für Absichten wie diejenigen von Beltracchi lassen würden.
Ein weiterer Grund für die vergleichsweise geringe Fälschungsattraktivität von Müllers Werken ist der Grad ihrer Begehrlichkeit, der gegenüber alten Meistern wie Max Ernst & Co. selbstverständlich niedriger ist. Dass die Gemälde und Skulpturen des Kubismus, Expressionismus und Surrealismus häufig Besitzerinnen und Besitzer wechselten, eine lange Ausstellungsgeschichte haben und in vielen Texten Erwähnung finden, ist in den entsprechenden Werkverzeichnissen unter „Provenienz“, „Ausstellungen“, „Aufbewahrungsort“ oder „Literatur“ üblicherweise nachzulesen.
Müllers erste Bände seines Catalogue raisonné verzeichnen momentan teilweise nur die Provenienz, meistens namentlich den Besitz des Künstlers. Diese momentan noch lose Verbindung von Müllers Œuvre zu den Präsentationsforen, Diskursen und Märkten der Gegenwartskunst bewahrt es ebenso noch vor Nachahmung.
Zurück zur Materialität
Umgekehrt fällt allerdings auf, dass Müller schon allein in der Gestalt seines Catalogue raisonné den Bezug zu Tradition und Kanon herausfordert. In den letzten Jahren ist es nämlich gängige Praxis geworden, Werkverzeichnisse ausschließlich online zu führen und somit nicht nur Druckkosten zu sparen, sondern auch eine kontinuierliche, umstandslose Aktualisierung zu gewährleisten. Dementgegen lässt Müller opulente Bücher produzieren und überbietet mit derzeit 44 geplanten Einzelbänden das wohl bekannteste Werkverzeichnis, die von Christian Zervos über Pablo Picassos Œuvre herausgegebenen 33 Bücher in acht Schubern mit einer Regallänge von stolzen 114 Zentimetern.
Müllers Vorgehen erscheint zwar angesichts von Nachhaltigkeitsdebatten anachronistisch, doch leistet diese Materialität seinem Œuvre, das die Bücher beinhalten, konsequent Folge: Passgenau zu den Werken und Werkgruppen verhalten sich die Farbigkeit der Leineneinbände in Altrosa, die Mehrsprachigkeit der Texte in Deutsch, Englisch und Chinesisch, überhaupt die Relationen von Bild, Text und Sprache und zudem die Vorliebe für Systematik und Vermessung, Risiko und Maßlosigkeit.
Das alles kennzeichnet übergeordnet Müllers bisheriges Schaffen, das mit erfundenen, an asiatische Zeichen und Regionen angelehnte Stadtpläne, Landkarten und die K4 genannte Schrift auf rosafarbenem Papier seinen professionellen Anfang nahm. Entsprechend entfalten sich auf den Rücken der bereits veröffentlichten Bücher einzeln gedruckte Streifen der Zeitzonen einer Weltkarte, die sich weiter fortsetzen wird.
Mehr als nur Beiwerk
Die gesamte Anlage von Müllers Catalogue raisonné entspricht überdies dem Konzept der Erweiterung seiner künstlerischen Praxis des Schreibens, Zeichnens, Malens, der Installationen und der Performance über das Medium Künstlerbuch hinaus. Diese Erweiterung sucht er genauso mittels seiner kuratorischen oder ökonomischen Unternehmen, sei es als Initiator und Betreiber von Ausstellungsräumen oder der „Alien Athena Foundation“, die das Projekt Werkverzeichnis als work in progress unterstützt. So gesehen, ist Müllers „Ernstes Spiel – Catalogue Raisonné“ mehr als nur Beiwerk. Es gewinnt Kunstwerkcharakter.
Hinzu kommt die merkwürdige Betitelung: Im Gegensatz zu Kunstwerken tragen Werkverzeichnisse gemeinhin keinen Titel, zumal keinen derart poetisch durchwirkten. „Ernstes Spiel“ ist eine paradoxe Formulierung, die sich im engeren Sinn auf pädagogische Lernspiele, in weiterem Sinn auf die Verbindung von Ästhetik und Kapitalismus bezieht. Auch diese Verbindung wiederum ist mit Blick auf Geschichte und Gebrauch von Werkverzeichnissen – wie gezeigt – sinnfällig. Müllers „Ernstes Spiel“ erfüllt zwar Form, Funktion und Format eines Werkverzeichnisses, setzt aber den wissenschaftlich und wirtschaftlich so gewichtigen Catalogue raisonné in kunstvolle und gleichsam distanzierte Anführungszeichen.
Ein derartiger Status des Werkverzeichnisses als Kunstwerk kann gegenwärtig nicht verwundern. Zum einen sind zeitgenössische Kunstschaffenden wegen der erfolgversprechenden Marktabhängigkeit geradezu gezwungen, an der eigenen Kunstgeschichte mitzuschreiben und Wege zu finden, ihre Produktionen und Projekte zu archivieren und damit auch Kontrolle zu bieten. Zum anderen ist die Ausweitung des Werks über das Beiwerk in ein Netzwerk ein entscheidendes Signum der Gegenwartskunst.
Das Agieren innerhalb dieser Vernetzung ist angesichts der Vielfalt zeitgenössischer Kunst mit der Absicht verbunden, überkommene Vorstellungen von alleiniger Autorschaft und Autorität zu erneuern und dennoch dem eigenen Selbst zu Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit und Geltung zu verhelfen. So können spätestens seit der konzeptuellen Kunst um 1970 aus Beiwerken – wie Einladungskarten, Objektschildern, Künstlerinnenstatements oder eben Werkverzeichnissen – eigenständige Werke werden. Mehr noch: Was Beiwerk und was Werk ist, kann Ansichtssache sein.
[Titelbild: Ausschnitt aus “Ernstes Spiel”, Vol. 1.4, © Michael Müller]