„Chinesische Literatur war schon immer Weltliteratur“: Ein Interview mit Wolfgang Kubin
Nach 30 Jahren im Werden vollendet sich in diesem Jahr die umfangreichste Darstellung der chinesischen Literatur weltweit. Wir sprachen mit dem Sinologen Wolfgang Kubin über sein Lebenswerk.
Das „Reich der Mitte“ gehört zur den ältesten Zivilisationen der Erde. Etwa 4.000 Jahre der Geschichte Chinas sind durch Schriftzeugnisse belegt und bereits vor 3.000 Jahren erreichte die Schriftsprache ein so hohes Niveau, dass man aus heutiger Sicht vom Aufkommen chinesischer Literatur sprechen kann. Damit schauen wir zurück auf die am längsten lebendige literarische Tradition der Menschheit.
Was können uns mehrere tausend Jahre chinesischer Gedichte, Romane und Dramen über längst verschwundene Kulturen, Gesellschaftsordnungen und Einzelschicksale verraten? Angesichts der schieren Fülle literarischer Werke mag es wenig aussichtsreich scheinen, sich dieser Frage überhaupt annähern zu können, doch der Bonner Sinologe Prof. Dr. Wolfgang Kubin wollte sich davon nicht abschrecken lassen – ganz im Gegenteil.
Kubin, geboren 1945 in Celle, ist emeritierter Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, lehrt an Hochschulen in Peking und Shantou und gilt als einer der angesehensten Sinologen Europas. Darüber hinaus ist er als Schriftsteller und Übersetzer von chinesischer Lyrik tätig, hat zahlreiche Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht.
Schon Ende der 80er Jahre initiierte er sein Herzensprojekt, das ihn ab da viele Jahre beschäftigen und begleiten sollte: die „Geschichte der chinesischen Literatur“ – eine zehnbändige Abhandlung chinesischer Literaturgenres von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, inklusive einer Bibliographie zur chinesischen Literatur und eines biographischen Handbuchs. Die FAZ nannte die Reihe 2002 ein „monumentales Unternehmen deutscher Gelehrsamkeit, wie man es sonst nur vom neunzehnten Jahrhundert her zu kennen meint.“
Zwischenzeitlich sah es so aus, als könnte das Mammutprojekt unvollendet bleiben, doch in diesem Jahr – 30 Jahre nach Projektbeginn und 20 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – erscheint der zehnte und letzte Band der Reihe. Anlässlich der Veröffentlichung sprachen wir mit Wolfgang Kubin, der sich aktuell in Shantou, Guangdong am südchinesischen Meer, aufhält. Er erzählte uns von den Anfängen der Reihe, ihrer Bedeutung für die Sinologie und vergab am Ende sogar noch ein paar Lesetipps.
De Gruyter: Nach fast 20 Jahren seit dem Erscheinen des ersten Bandes aus der Reihe hat sich China wirtschaftlich und auch kulturell als eine Weltmacht konsolidiert. Wie haben sich der Forschungsstand und das allgemeine Interesse an der Sinologie und chinesischen Literatur seitdem entwickelt?
Wolfgang Kubin: Ich begann besagte Reihe 1988 zu entwerfen. Damals war China noch ein armes Land, aber bereits geistig sehr offen. Ab den 90er Jahren hat Peking die Entwicklung des Landes von einer geistigen zu einer wirtschaftlichen Entwicklung verschoben. Deshalb hat das Interesse an der chinesischen Literatur zumindest innerhalb der deutschsprachigen Universitäten nachgelassen. Wer heute chinesische Literatur übersetzt oder analysiert, arbeitet meist außerhalb von Hochschulen.
Da ich noch bei den deutschen Meistern der chinesischen Literatur in die Schule gehen konnte, sah ich es als meine Pflicht an, deren wenig publiziertes Wissen von ihren Schülern und mir zusammentragen zu lassen. Leider sind viele Kollegen abgesprungen. Deshalb hatte ich 3 1/2 Bände selber zu schreiben.
Deutschland war einst führend in der Übersetzung und Vorstellung chinesischer Literatur. Heute liegt unsere Stärke eher in der Vermittlung chinesischer Philosophie, Historie und Geistesgeschichte.
DG: Was hat die Geschichte der chinesischen Literatur für das Forschungsfeld geleistet?
„Wir haben viele Werke zugänglich gemacht, die kaum jemand kannte.”
WK: Unsere Bonner Geschichte ist die umfassendste der Welt. Kein Land kann da mithalten. Die USA brachten es gerade einmal mit der doppelten Besetzung auf zwei Bände, wo vieles fehlt. Abgesehen von der Quantität der etwa 5.000 Seiten ist unsere Qualität eine andere: Wir haben einen hermeneutischen Zugang geübt, welcher die Weltliteratur miteinbezieht. Chinesische und japanische Literaturgeschichten (meist einbändig) verfahren dagegen eher philologisch, interpretieren kaum, berichten Fakten. Wir haben zudem viele Werke zugänglich gemacht, die kaum jemand kannte.
DG: Wie wird das Großwerk in China und außerhalb seiner Grenzen wahrgenommen?
WK: Wir werden eher in China als in Deutschland rezipiert. Die übersetzte Auflage ist sehr, sehr hoch und inzwischen ausverkauft. Sie soll nachgedruckt werden. Anglophone Länder waren an einer englischen Übertragung interessiert, verlangten aber 100.000 Euro Unterstützung, 50.000 Euro hätte die deutsche Seite bewilligt.
Die Ausgabe stieß in China auf große Begeisterung, besonders die Geschichte der chinesischen Literatur im 20. Jahrhundert lud jahrelang zu zahlreichen Diskussionen und Besprechungen ein.
DG: Was bedeutet der Abschluss der Geschichte der chinesischen Literatur für Sie persönlich?
WK: Eine große Genugtuung, denn ich hatte bei Band 8, der Bibliographie, die Befürchtung, er würde nach mehr als dreißig Jahren nicht fertig werden. Die „Geschichte“ wäre dann ein Torso geblieben. Glücklicherweise erledigte ein chinesischer Kollege das, was ein Deutscher in zwanzig Jahren und ein Schweizer in fünf Jahren nicht zu leisten in der Lage waren.
DG: Hat die chinesische Literatur das Potenzial zur globalen Literatur?
WK: Die chinesische Literatur war schon immer Weltliteratur! Ihre Geschichte umfasst dreitausend Jahre. Sie ist die längste lebende ihrer Art. Viele Werke erfreuen sich in deutschen Landen großer Beliebtheit. Der Roman „Traum der roten Kammer“ (übersetzt von Franz Kuhn bei Suhrkamp) in einer Auflage von 200.000 Exemplaren wird inzwischen der deutschen Literaturgeschichte zugerechnet.
DG: Welche Klassiker würden Sie unserer Leserschaft als erste Begegnungen mit der chinesischen Literatur empfehlen?
WK: Den Roman „Traum der roten Kammer“ (zwei deutsche Übertragungen), das Theaterstück „Der Päonienpavillon“ (als „Rückrufe der Seele“ bei verschiedenen Verlagen), die „300 Gedichte der Tang-Zeit“ (618-907) bei Suhrkamp, die „Essayistik der Song-Zeit“ (960-1279), „Der Ruf der Phönixflöte“ (Rütten und Loening) und das Werk von Lu Xun (1881-1936) im Unionsverlag.
DG: Und welche literarischen Neuheiten aus China haben Sie in diesem Jahr begeistert, die Sie den erfahrenen Lesern und Leserinnen empfehlen würden?
WK: Die Gedichte von Xiao Xiao oder Wang Jiaxin (beide bei Bacopa), die Autobiographie von Bei Dao (Hanser).
[Titelbild: Illustration einer Szene aus dem Theaterstück “Der Päonien-Pavillon”; Wikimedia Commons]