Wie steht es um das wissenschaftliche Erbe der DDR? Eine Podiumsdiskussion
Unter welchen Bedingungen wurde in der DDR wissenschaftlich publiziert? Was geschah mit den Forschungsergebnissen nach der Wende? Und welche Bedeutung hat die Aufarbeitung von DDR-Forschungsliteratur? Diese und weitere Fragen diskutierten Birgit Dahlke, Rudolf Bentzinger und Christoph Links auf einer Veranstaltung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften anlässlich der Digitalisierung des Bucharchivs des Akademie-Verlags.
Über Jahrzehnte hinweg war der 1946 gegründete Akademie-Verlag der wichtigste und größte Wissenschaftsverlag der DDR – dann kam die Wende. Sowohl durch politische Entwicklungen als auch durch die anwachsende Publikations- und Medienflut schien ein beträchtlicher Teil des ostdeutschen wissenschaftlichen Erbes zunehmend in Vergessenheit zu geraten.
Erfahren Sie mehr über das Bucharchiv des Akademie-Verlags und seine Digitalisierung auf unserer Website.
Um die vom Akademie-Verlag publizierte Forschungsliteratur der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen, begann De Gruyter im Jahr 2023 mit der Arbeit an einem Mammutprojekt: der Digitalisierung von mehr als 10.000 zum Teil vergriffenen Büchern aus beinahe allen Fachbereichen der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Das Bucharchiv wurde dem Verlag zuvor von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) geschenkt, deren Vorgängerinstitution seit 1946 Hauptgesellschafterin des Akademie-Verlags war.
Im Rahmen dieses laufenden Projekts lud die BBAW in Kooperation mit De Gruyter vor kurzem zu einer Podiumsdiskussion ein, um sich über dessen zeithistorischen und wissenschaftlichen Kontext auszutauschen. Moderiert vom Präsidenten der BBAW, Christoph Markschies, trafen in der Veranstaltung drei unterschiedliche Perspektiven auf das Thema „Wissenschaft und Verlagswesen in der DDR“ aufeinander.
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Der Germanist und Philologe Rudolf Bentzinger teilte seine Erfahrungen als Autor beim Akademie-Verlag zu DDR-Zeiten. Christoph Links, Sachbuchautor sowie ehemaliger Geschäftsführer des Ch. Links Verlags, beleuchtete die Sonderstellung des Akademie-Verlags im ostdeutschen Verlagswesen. Birgit Dahlke, Leiterin der Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf an der Humboldt-Universität zu Berlin, sprach über ihren Werdegang als Literaturwissenschaftlerin während des Vereinigungsprozesses und ihre Berührungspunkte mit den Publikationen des Akademie-Verlags.
Die gesamte Podiumsdiskussion ist als Video verfügbar. Zudem haben wir die drei Referent*innen “hinter den Kulissen” noch einmal zu ihrer Sicht auf die Aufarbeitung der Inhalte des Akademie-Verlags befragt. Im Folgenden finden Sie ihre Antworten.
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De Gruyter: Welche Chancen ergeben sich, da nun ein Teil des ostdeutschen kulturellen Erbes in den Fokus gerückt wird?
Christoph Links: Die Werke des Akademie-Verlages waren erfreulich unideologisch in ihrer Mehrzahl – anders als bei anderen Verlagen, denn der Akademie-Verlag war der größte Exportverlag der DDR und hat darauf Wert gelegt, dass immer qualitativ substanziell gearbeitet wurde und wenig politische Agitation dabei war. Dadurch ist eine wirkliche Substanz entstanden und [dies ist] in den Publikationen auch nachlesbar, die es bis heute zu würdigen gilt. Insofern kann ich mich nur freuen, dass das jetzt auch digitalisiert wieder zugänglich gemacht wird, denn die gedruckten Bücher, in vergleichsweisen kleinen Auflagen, sind ja nicht mehr überall verfügbar, gerade auch nicht in den Bibliotheken.
Rudolf Bentzinger: Ich kann das nur aus vollem Herzen begrüßen. Denn es ist auch aus den Gesprächen nach der Podiumsdiskussion deutlich geworden, dass etliche ostdeutsche Wissenschaftler darunter leiden, dass die wissenschaftliche Leistung in der DDR, auch hier an der Akademie, oft unterschätzt wird. Durch eine Digitalisierung kann man dem wirksam entgegenwirken. Und das finde ich großartig.
Birgit Dahlke: Die Sichtbarkeit ist, glaube ich, der größte Effekt. Dass man all diese Pauschalurteile, die auch heute fielen, einfach aufsplittet und für verschiedene Zeiten, Projekte und so weiter selbst überprüft – noch in 50 Jahren. Insofern bin ich unheimlich dankbar für die Verfügbarmachung, für Lehrende und Studierende vor allem. Wenn man bei Literaturrecherchen überhaupt auf diese Wissenschaftsergebnisse zugreifen kann, wird man merken, welche Quelle relevant ist für eine bestimmte Arbeit. Das ist der erste Vorteil. Der zweite ist, dass man eine Komparatistik von Wissenschaften in einer Zeit machen kann. Man kann die ostdeutsche Thematisierung eines bestimmten Problems, zum Beispiel Literatur und Kunst der Moderne, zeitgleich oder themengleich vergleichen: Wie waren die Zugänge? Wie waren die Perspektiven? Was waren die Interessen der beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen? Natürlich, Zensur war ja nicht ganz weg, sondern es gab eine Verlagerung der Zensur in die Teams, in die Leitung der Forschungskollektive. Das wäre schon spannend [zu untersuchen] …
De Gruyter: Erfährt die ostdeutsche Wissenschaft die Aufmerksamkeit, die ihr gebührt?
Rudolf Bentzinger: Es ist besser geworden, aber zunächst war es ganz schlimm. Oft wusste man gar nicht, dass zu bestimmten Fragen Antworten in DDR-Publikationen gegeben wurden. Das haben wir Gott sei Dank überwunden, aber es ist noch viel Arbeit notwendig, um der DDR-Wissenschaft den Platz einzuräumen, den sie verdient hat.
Christoph Links: Die DDR-Wissenschaft ist in den 90er Jahren im Zuge des Vereinigungsprozesses an vielen Stellen sehr abgewertet worden. Das hatte mit der damaligen Politiksituation zu tun, dass unter der Regierung von Helmut Kohl bis 1998 eine Delegitimierung der DDR angestrebt wurde. Das hat sich zum Glück geändert. Inzwischen können wir differenzierter auf die Leistungen, Schwächen und auch Fehler und Deformationen der DDR schauen. Daher, denke ich, ist es gut, dass jetzt die Substanz, die dabei erzeugt wurde, wieder zugänglich gemacht wird und auch abgeprüft werden kann auf das, was Substanz hat und was eher dem Vergessen anheimgegeben werden darf.
Birgit Dahlke: Das [Problem] sehe ich eher in einer Zeitentwicklung. Durch die Medienentwicklung in der sogenannten Informationsgesellschaft ist es ja unüberschaubar zu überblicken, was alles verfügbar ist. Damit würde ich das eher erklären – also, gar nicht so sehr, dass es [nur] die DDR-Erkenntnisse dieser Phase betrifft, sondern die internationale Forschung einer früheren Zeit, weil das Bewusstsein für Historizität von Wissen, nach Foucault, verloren geht durch diese ständige „Plattform-Gegenwart“, durch dieses ständige Timeline-Denken, höchstens [über] diese Tage, dieses Jahr oder drei Jahre zurück. Die Vorstellung von vergangenem Wissen, von Entwicklung von Wissen, die geht verloren und das trifft die DDR-[Wissenschaft], aber alle anderen Wissenschaftsbereiche auch.
[Titelbild: Roger & Renate Rössing/Deutsche Fotothek via Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE Deed]