Natur und Spiritualität: Ein Gespräch mit Harald Lesch
Was bedeutet „Natur“? Wie gehen wir mit der Unermesslichkeit des Universums um? Und wie steht ein Astrophysiker zum Thema Spiritualität? Über all das und mehr sprachen wir mit einem der bekanntesten Wissenschaftler Deutschlands und selbsterklärten Himmels-Nerd, Prof. Dr. Harald Lesch.
Das vorliegende Interview erschien erstmalig am 9. Juni 2021 unter dem Titel “Spiritualität der Natur: Brücke zwischen der Welt außen und der Welt innen. Ein Gespräch mit Harald Lesch” in der Zeitschrift Spiritual Care.
Im Spannungsfeld von Materie und Geist scheinen sich Naturwissenschaft und Spiritualität diametral gegenüber zu stehen. Doch dass dem nicht zwangsläufig so ist, durften wir in einem spannenden Gespräch mit Prof. Dr. Harald Lesch nachvollziehen.
Lesch ist Professor für Astrophysik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und unterrichtet Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Darüber hinaus ist er Sachbuchautor und Fernsehpersönlichkeit, moderiert unter anderem die ZDF-Sendungen „Leschs Kosmos“ sowie „Terra X Faszination Universum“. Seine Fähigkeit, komplexe Sachverhalte locker, verständlich und gepaart mit einer Prise Humor zu erklären, hat ihn zu einem der bekanntesten Wissenschaftler Deutschlands gemacht.
Das Gespräch führte der Psychiater und Psychoanalytiker Prof. Dr. med. Eckhard Frick SJ. Er ist Professor für Spiritual Care und psychosomatische Gesundheit am Klinikum rechts der Isar der TU München, sowie Professor für Anthropologische Psychologie an der Hochschule für Philosophie in München und Schriftleiter der Zeitschrift „Spiritual Care“.
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Eckhard Frick: Von „Natur“ sprechen wir in der Naturwissenschaft und in der Alltagssprache. Als Städter z. B. wollen wir in die Natur hinausgehen oder wir staunen über die Natur. Wie würdest du für einen Nichtphysiker den Begriff „Natur“ definieren?
Harald Lesch: Die Physik ist wahrscheinlich die unnatürlichste Naturwissenschaft. Sie presst Natur in Experimente und unterzieht sie durchweg der quantitativen Analyse durch Messungen in aller Form. Aber ist das dann auch Natur? Aristoteles ist da ganz eindeutig: Natur ist das, was sich von selbst macht, und zwar ohne unser Zutun, ohne jede Art von menschlichem Eingreifen. Das ist zunächst einmal die natürlichste Natur, der wir überhaupt gegenüberstehen können. In dem Moment, wo wir angefangen haben, die Natur, sei es nun in der Landwirtschaft oder im Forst oder sonst irgendwo zu verändern, ist das nicht mehr die Natur, wie sie wäre, wenn sie sich ganz allein von selbst machen würde.
EF: Ignatius von Loyola stieg gern aufs Dach und schaute sich den offenbar damals noch sehr eindrucksvollen Sternenhimmel über der Stadt Rom an. Menschen, die keine Naturwissenschaftler sind, staunen, wenn sie die Sterne sehen. Wie geht es dir als Astrophysiker damit?
HL: (Lacht.) Weißt du, meine Frau ist eine wahre, eine richtige Astronomin. Sie hat selbst mit kleinen oder großen Teleskopen in den Himmel geblickt. Sie kennt sich aus mit all den Geschichten, die sich um die Sternzeichen ranken. Wenn wir aber zusammen in den Himmel schauen, dann ist das etwas ganz Anderes. Wenn wir zusammen in den Himmel schauen, dann tut sich etwas auf. Da ist der gemeinsame Himmel über uns. Das Zelt dort oben ist für alle Menschen auf der Welt unglaublich beeindruckend. Das ist mit dem Wort „Staunen“ nur unvollständig beschrieben, da steckt noch viel mehr drin. Es ist ja riesig. Es gibt ja nichts Größeres als den Himmel über uns. Etwas Ähnliches könnte sein: Wenn du am Strand stehst, der Ozean vor Dir, bis zum Horizont, dahinter ist erst einmal absehbar keine Küste. Aber beim Himmel weißt du überhaupt nicht, was sich dahinter verbergen könnte. Du erkennst nur diese kleinen Lichtchen im großen dunklen Meer des Kosmos – groß, dunkel und überall. Abgesehen von der Arktis und der Antarktis kannst du dich vor der Erscheinung des dunklen Nachthimmels gar nicht flüchten und ich glaube, das ist wirklich etwas in uns, das etwas ganz Tiefes anrührt. Wenn man sich nämlich einmal die Erde als einen Strand am Ozean des Kosmos vorstellt. Unser Erdboden ist der letzte Strand, danach beginnt direkt der Kosmos. Direkt über unseren Köpfen beginnt das Universum.
“Das alles bewegt sich in mir.”
Wenn man sich auf ein solches Bild einlässt, und vielleicht vom Mond oder von Sonden auf die Erde zurückblickt und unseren blauen Planeten als Insel in diesem gewaltigen Kosmos wahrnimmt … Das alles bewegt sich in mir. Auch als ich am 21. Dezember diese große Konjunktion von Jupiter und Saturn gesehen habe. Die beiden Gasplaneten erschienen sehr nahe zusammen am Himmel. Eine Konjunktion, die ja eine gewisse theologische Bedeutung haben könnte, als der Stern von Bethlehem. … Ich weiß inzwischen auch, welch überragende Rolle Jupiter und Saturn in der Bildung des Sonnensystems gespielt haben, ganz am Anfang. Ohne die beiden wären wir gar nicht hier, Eckhard, das glaubst du gar nicht. Ohne diese beiden Planeten würde das Sonnensystem völlig anders aussehen. Und das spielt dann in mir so mit, als einem, wie soll ich sagen, einem Fan der Naturgeschichte. Also, ich blicke das an, kann das unmittelbar genießen, bin aber immer wieder überrollt davon, was wir naturwissenschaftlich alles über die Entwicklung und damit die Geschichte der Natur sagen können, wo ich dann stehe und sage: „Mein Gott, diese zwei Riesenplaneten da, was haben die für eine überragende Bedeutung für unser Hiersein!“ Also, so ein richtiger Himmels-Nerd wie ich, ich gucke da nochmals anders drauf und bin eigentlich total begeistert, muss ich sagen.
EF: Es gibt also dein fachliches Wissen und die Begeisterung und dann dieses Wahrnehmen der Unermesslichkeit. Blaise Pascal hat beschrieben, wie er zwischen den Unendlichkeiten des Universums und des Mikrokosmos steht, den er ja noch gar nicht so kannte wie wir. Zwischen diesen Unendlichkeiten fühlte er sich dennoch nicht verloren. Ist das ein Weg zu einer Spiritualität eines Naturwissenschaftlers, sich zwischen diesen beiden Unendlichkeiten wiederzufinden?
HL: Für uns in den Naturwissenschaften gibt es gar keine Unendlichkeit. Die gibt es nur in der Mathematik. Es ist sogar so, wenn die Welt Unendlichkeiten besäße, würde sie explodieren oder komplett in sich zusammenfallen können. Wir interessieren uns in der Astrophysik gerade für die Prozesse, die die Welt stabil halten. Aber ich komme zu deiner Frage: Natürlich ist diese mathematische Distanz zu dem ganz Großen und dem ganz Kleinen wirklich gewaltig, und wir stehen interessanterweise in der Mitte. Zu dem ganz Kleinen wie zu dem ganz Großen hat Pascal schon die richtige Intuition gehabt. Aber was mich dabei umtreibt, ist, dass sowohl im Kleinen wie im Großen keine Individualität stattfindet. Die allerkleinsten Elementarteilchen kann man ebenso wenig voneinander unterscheiden, wie Galaxien oder Galaxienhaufen. Da gibt es keine Personalität, es gibt nicht Individuelles, was man dem zuschreiben kann. Das Material, die chemischen Elemente aus denen Planet und seine Lebewesen, auch wir beide bestehen, also die Atome, die könnten auch von der Andromeda-Galaxie stammen. Atome sind überall im Kosmos die Gleichen.
“Dort wo die Dinge beginnen, personal zu werden … da findet sich auch ein direkter Weg hin zur Spiritualität.”
Aber dort, wo die Dinge beginnen, personal zu werden, wo also etwas passiert, was in der Kombination absolut einzigartig ist, ich glaube, da findet sich auch ein direkter Weg hin zur Spiritualität. Denn dort kommt jedem einzelnen Geschöpf Bedeutung zu. Das gibt es nur einmal, das kommt nie wieder. Und das kann man sogar festmachen: Wenn man bei der sehr kleinen Welt der Elementarteilchen beginnt, und immer weiter neue Bausteine daraus aufbaut, zuerst Atomkerne, dann Atome und schließlich Moleküle, dann landet man auf einer materiellen Ebene, auf der man Individuen eindeutig identifizieren kann. Auf der Ebene der Moleküle, die unser Erbgut ausmachen. Geht man diesen Weg immer weiter, landet man bei Familien, Gruppen usw. Aber dann darüber hinaus, verliert sich das wieder. D.h. es gibt eine Zone des Personalen in der Welt. Ja, da sind wir mitten drin und ich glaube deswegen auch, dass wir Spiritualität nur personal spüren und erkennen.
EF: Personal heißt ja auch, im Dialog sein können, also bi-personal oder multi-personal, je nachdem. Es gibt ein gewisses Revival der Begriffe „Geschöpf“ und „Geschöpflichkeit“. Philosophen wie Jürgen Habermas und die Umweltbewegung haben den Begriff irgendwie wiederentdeckt. Was heißt eigentlich Schöpfung? Wann taucht dieser Begriff im Diskurs auf?
HL: in den Naturwissenschaften benutzen wir solche „etwas schwammigen“ Begriffe immer dann, wenn wir aus unserer reduktionistischen Wohlfühlzone raus müssen. Also, wenn wir raus müssen aus der Betrachtung von Einzelteilen, und wir beginnen Lebewesen und die Welt in ihren Wechselwirkungen als Systeme zusammenzuschauen. Dann merken wir, dass wir für solche Betrachtungen des Ganzen keine messbaren Begriffe besitzen. Dann bedienen wir uns in anderen Teilen unserer Sprachwelt. Vor allen Dingen dann, wenn wir über natürliche Systeme sprechen, wo vieles gleichzeitig stattfindet, wo es auf die Vernetzung von allem, was da ist, ankommt. Also, das entscheidende Stichwort bei Schöpfung ist für mich Komplexität. Komplexität als eine Übersumme, also mehr als die Summe der Teile, wie es bei Aristoteles heißt. Diese Eigenschaft tritt dann auf, wenn Prozesse zwischen den einzelnen Teilen so intensiv sind und so stark aufeinander rückwirken, dass man nicht entscheiden kann, was man aus dem System herausnehmen kann. So wie man vielleicht bei einer Maschine entscheiden kann: Komm, wenn diese eine Schraube fehlt, dann kann mir nicht viel passieren. Bei der Maschine ist es kompliziert, aber es ist nicht komplex. Komplex wird es, wenn ich mich selber mit hinein nehme bzw. wenn ich überhaupt nicht mehr überschauen kann, welche Ursachen welche Veränderungen bewirken.
“Das entscheidende Stichwort bei Schöpfung ist für mich Komplexität.”
In der Natur gibt es Phänomene, die wir messen können, die wir beobachten können und die wir anderen Individuen erklären und erzählen können, so dass sie sie auch wahrnehmen können. Und dieses Zwischen-Personale macht es eben möglich zu sagen Ich habe jetzt so viele Einzelteile, und das zusammenzubringen und das auch in seiner Entwicklung zusammenzubringen, also in einer gedeihlichen Schöpfung, dass es wirklich immer weitergeht, das ist eigentlich das, was mit dem Thema „Schöpfung“ gemeint ist. Die Ökologie, die sich mit Systemen beschäftigt, hat zwangsläufig das Problem, dass sie einen Begriff für das System-Ganze benötigt. Und wenn das nicht irgendein so hegelscher Begriff sein soll, dann ist man mit dem Begriff Schöpfung eigentlich schon ziemlich gut dabei. Ich habe das live erlebt, als ich mit Johannes Wallacher und anderen Kollegen in den Ötztaler Alpen war und wir bei einem Kraftwerks-Projekt dort oben Ethik live durchgeführt haben. Wir haben aus verschiedenen Perspektiven die aktuelle Lage erklärt. Wir haben über Ethik gesprochen, ich habe als Naturwissenschaftler gesprochen usw. Am Ende kam dann der Religionsphilosoph aus Innsbruck und hat in seinem Vortrag gesagt: Moment mal, wir sollten jetzt doch hier nicht immer über Natur denken, als etwas, das ökonomisch-naturwissenschaftlich zugriffsfähig ist, sondern über Natur als Schöpfung. In diesem Moment hatte sich die Stimmung im Saal gedreht hat. Dieser Religionsphilosoph hatte es geschafft, die ganze Diskussion wie in einem Wort zusammenzufassen.
EF: Um diesen Umschlagspunkt besser zu verstehen. Vorher ging es um den Zugriff auf die Natur: ökonomisch, naturwissenschaftlich, technisch usw. Und mit dem Wort „Schöpfung“ ging es plötzlich um die Unverfügbarkeit, wie Hartmut Rosa (2019) sagt, wenn er vom Konflikt zwischen der Resonanz und dem Kontrollierenwollen um jeden Preis spricht.
HL: Ja, das war sehr beeindruckend. Denn in dem Moment tauchen dann Begriffe auf wie Respekt gegenüber der Natur. Und damit hat man interessanterweise wieder eine Brücke zurück zu den komplexen Systemen. Wenn du nämlich gar nicht mehr weißt, was du mit deinen Eingriffen im System anrichtest, ist es fast besser erst einmal zu gucken: Finger weg. In unserer Lebenszeit erleben wir stramme Beschleunigung, dass ein starker Druck da ist: Du musst in die Globalisierung, du musst digitalisieren und beschleunigen, beschleunigen, beschleunigen. Das ist das A und das O. Und da ist Spiritualität schon fast so etwas wie ein Rückzugsort geworden: Ich werde langsamer. Ich mache mir Gedanken. Es ist ein bisschen wie der Unterschied mit Prometheus, ich muss immer nach vorne, vorne und sein Bruder dem Epimetheus, der nach hinten blickt und erst mal guckt: Moment mal, wo bin ich denn eigentlich?
EF: Auch in Gesundheit und Medizin reden wir von „Natur“, z. B. von Naturheilkunde oder natürlicher Geburt. Und gleichzeitig will die Medizin evidenzbasiert und so naturwissenschaftlich wie möglich sein. Wie wirkt dieser ambivalente Sprachgebrauch auf dich?
HL: Ich glaube, dass in der Öffentlichkeit häufig ein enormes Missverständnis darin besteht, dass Natur, alles was natürlich ist, auch gut ist für uns. Dabei sind da draußen, wenn ich das so sagen darf, auch Prozesse am Werk, Stoffe da, die uns umbringen können, auch wenn sie ganz natürlich sind, wie das Gift der Klapperschlange. … Mein Eindruck ist, dass diese Form des Lebens, das wir führen, eine sehr starke Distanz zur Natur hervorgerufen hat. Das ist bei den Älteren noch weniger als bei den Jüngeren. Viele junge Leute in urbanen Siedlungsräumen haben überhaupt keine Ahnung, wie die Natur funktioniert. Sie können sich weder vorstellen, dass ein Tier ein anderes reißt, um es zu fressen, noch haben sie irgendeine Ahnung, was eigentlich passiert, wenn ein Kalb auf die Welt kommt.
“Ich denke, dass wir in der Medizin den Begriff Natur sehr, sehr vorsichtig verwenden sollte.”
Zur Frage der Naturheilkunde: Ich glaube, dass Medizin eben nicht nur eine Wissenschaft vom menschlichen Körper ist, sondern auch eine Sozialwissenschaft, d. h. die den Menschen als soziales Wesen innerhalb der Gesellschaft, innerhalb der Gruppen, in denen jemand lebt, mit anschauen muss, weil enorme Einflüsse auf uns, ja wirklich, auch einfließen, die uns gesundheitlich enorm stark beeinflussen. Das ist der Stress, aktuell bei Corona ist es offensichtlich, aber auch der Klimawandel gefährdet unsere Gesundheit sehr stark. Die Natur reagiert natürlich auch auf das, was wir mit ihr gemacht haben und damit könnte man sagen: Der Klimawandel ist ganz natürlich. Wenn man mehr Treibhausgase in der Atmosphäre hat, dann wird es wärmer. Und wenn es wärmer wird, dann gibt es eben mehr Extremwetter-Situationen. Ist eigentlich eine ganz natürliche Reaktion. Was will die Natur sonst machen? Sie hat ihre Gesetze und Bedingungen, unter denen sie funktioniert. Ich denke, dass wir in der Medizin den Begriff Natur sehr, sehr vorsichtig verwenden sollten, weil das, was da passiert, zunächst im Dialog zwischen Ärztin und Patient oder Arzt und Patient geschieht. Über die Arzt-Patient-Beziehung hinaus geht es dann um diesen enormen medizinisch-technischen Komplex, der uns im Zweifel das Leben retten kann und das auch Tag für Tag tut. Deswegen hat Naturheilkunde für mich auch nicht so eine große Bedeutung wie dieser technische Teil, weil da wirklich Leben gerettet wird. Naturheilkunde ist dann interessant, wenn es um systemische Krankheiten geht, die jetzt nicht unmittelbar lebensbedrohlich sind, aber die langsam dazu führen können, dass sich der Zustand eines Patienten immer weiter verschlechtert und verschlechtert. Also, bei diesen systemischen Krankheiten kann es sein, dass eine leichte Art von „Nudging“, wie es durch Naturheilkunde verursacht werden kann, hilft, ein System in die richtige Richtung zu bringen.
EF: Ich möchte gern noch auf den Begriff „Natur“ in heutigen Spiritualitäten zurückkommen. Spinozas Formel: „Deus sive natura“, die Gleichsetzung von Natur und Gott, wird heute in popularisierter Form wiederaufgenommen. Eine gewisse Vergöttlichung, der Natur, eine Natur, wo das Destruktive oder uns Gefährdende gar nicht gesehen wird.
HL: Ich komme auf mein Bild der personalen Zone zurück. Ich kann mich als Mensch wunderbar ausdrücken und kann prima kommunizieren mit anderen Menschen. Jetzt stehe ich aber dieser völlig unpersönlichen Natur gegenüber. Es gibt zwar diesen netten deutschen Volksmundspruch: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“. Ich kann dir garantieren, wenn du alleine vor dem Wald stehst und da reinschreist, wenn da keiner drin ist, dann schreit der Wald nicht zurück. Der Berg ruft auch nicht und die Wüste ruft dich auch nicht. Ich glaube, wir haben ein ganz großes Bedürfnis danach, der Natur wieder näher zu kommen. In die Natur reinzugehen, soweit sie uns eben zur Verfügung steht, und sich da zu spüren, und zwar, nicht als Funktionseinheit mit irgendwelchen Zusammenhängen wieder zu funktionieren, sondern sich mal ganz alleine zu spüren.
“Für mich hat Spiritualität der Natur viel damit zu tun, dass man versucht, eine Brücke zu bauen, zwischen dem, was da draußen ist und der Welt, die in einem innen drinnen stattfindet.”
Es gibt ja heute diese Waldspiritualität z. B., wo die Leute in den Wald gehen und einfach mal wieder spüren und wenn es nur ist „ach, hier ist die Luft aber anders als in der Stadt“. Also ich meine, das ist ja schon fast eine spirituelle Erfahrung, für viele auf jeden Fall, aber auch zu hören, du hast eine andere akustische Situation, eine andere optische Situation und vieles davon – ohne dass ich da jetzt im Detail Genaues dazu sagen kann, aber ich weiß es ein bisschen aus Untersuchungen – vieles davon ist für unseren Kopf, für unser Gehirn außerordentlich entspannend, weil wir eine große Vielfalt von Formen sehen, eine bestimmte Akustik haben, die uns nicht überfordert. Wir müssen da erst einmal gar nichts raus lesen. Wäre ganz anders übrigens, wenn wir irgendwelche Geräusche hören würden, die uns Angst verursachen würden. Also, wenn wir durch den Wald gehen würden und hätten irgendwie Wolfsgeheul, dann sieht die Welt anders aus. Aber dieses reine Sich-in-Natur-begeben und sozusagen das Plätschern am Bach zu hören, das Vogelgezwitscher usw. das ist etwas, was uns offenbar von unserer Natur gegeben ist, das dürfen wir nicht vergessen, wir sind ja ein Produkt der Evolution. Alles, wovon wir gesprochen haben, Medizin, Naturwissenschaften usw. aber auch Landwirtschaft usw., hat natürlich damit zu tun, dass wir ein Teil der Natur sind. Wir sind ein Teil von dieser Welt. Und diese Welt ist eben aber nicht nur diese Welt, die wir in uns spüren, sondern es ist auch die da draußen. Und für mich hat Spiritualität der Natur viel damit zu tun, dass man versucht, eine Brücke zu bauen, zwischen dem, was da draußen ist und der Welt, die in einem innen drinnen stattfindet.
Also, für mich persönlich ist das immer wieder der Moment, wo ich genau merke, wo es mir gelingt, aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen so einen kleinen Rucksack zu nehmen und anzufangen zu spazieren in Natur. Das ist für mich so wie so ein Picknick. Ich kann mich dann da hinsetzen und kann mir da einfach aus meinem Rucksack so Dinge rausholen, mit denen ich da jetzt reingucke, aber ich bin es immer noch. Ich bin immer noch Harald, der da sitzt, mit all seiner Zeitlichkeit, Körperlichkeit usw. und der jetzt eben im Grunde eigentlich nichts anderes tut, als versucht, sich wohl zu fühlen.
EF: Das würde ich gerne noch einmal rückkoppeln mit dem kritischen Einwand, den du hattest gegen all das, was wir projizieren, Projektionen, die wir wieder zurücknehmen müssen.
HL: Das Schöne ist ja, dass wir das können. Wir können ja sogar in uns einen Dialog führen, sag mal, was mache ich jetzt hier eigentlich? Du kannst dir vorstellen, ich bin ja auch noch Theoretiker, also theoretischer Physiker, d. h. ich bin eigentlich auf Mathematik gepolt. Und ich setze mich dem aus und kann eigentlich gar nicht richtig darüber sprechen, was da mit mir passiert, weiß nur, es tut mir unglaublich gut. Und ich spüre es körperlich. Also ich spüre es körperlich, so dieses Gefühl bis in die Fingerspitzen und bis in die Fußzehen so: „Ah, ja, ja, ja. Und was immer das ist, ich lasse es einfach mal hier durchlaufen“. Andererseits: Ich werde nie vergessen, wie ich mal einem Keiler gegenüberstand, also einem richtig wild gewordenen Keiler. Da war von Spiritualität überhaupt nichts mehr zu spüren. Ich bin gerannt.
EF: Zum Glück sind wir im Moment vor derartigen Bedrohungen sicher. Welche Folgerungen ziehst du aus unserem Gespräch über Natur und Spiritualität?
HL: Nach den Jahrhunderten, in denen wir wirklich versucht haben, alles verfügbar zu machen, wird es darauf ankommen, wirklich einen Schritt zurückzutreten und wirklich noch mal neu Inventur zu machen, ob das die Welt ist, wie wir sie jetzt haben wollen. Dass man aus dieser Spiritualität, aus der ganzen Diskussion über Naturspiritualität vor allen Dingen die Konsequenzen zieht: Dass wir diese Grenzenlosigkeiten und Unendlichkeiten, von denen wir gesprochen haben auf ein vernünftiges Maß von Endlichkeit herunterschrauben.
“Ich glaube, dass Spiritualität so etwas sein kann wie ein Kompass…”
Mit unserer Grenzenlosigkeit, z. B. auf dem Energiesektor, tun wir ja, so als könnte es noch drei oder vier Planeten geben. Diese totale Grenzenlosigkeit, die uns auf der einen Seite enorm geholfen hat in den letzten Jahrhunderten, anderseits aber eben auch ganz wichtige Leitplanken hat vernichten lassen, nämlich den Respekt gegenüber Natur. Ich glaube, dass Spiritualität so etwas sein kann wie ein Kompass in so einer komplexen Welt, wo du einfach weißt, das ist nicht gut, warum auch immer. Sozusagen ein intuitives Wissen, gepaart mit all dem Know-how, das uns die Naturwissenschaften liefern können, das könnte ein interessanter Moment werden, wo man sich gut auf dem Felde der Spiritualität treffen kann und sagen kann: Moment mal, hier gibt es ein paar Sachen, die sind nicht verfügbar, die können wir mit Schöpfung beschreiben, und wo es auf jeden Fall besser ist, die Finger davon zu lassen, diesen Bereich seiner eigenen Dynamik zu überlassen.
EF: Lieber Harald: Herzlichen Dank für diesen Austausch über Natur und Spiritualität!
[Title Image by Greg Rakozy via Unsplash