„Loriot war am ehesten ein Melancholiker“: Stefan Lukschy im Interview

Wir feiern den 100. Geburtstag von Loriot mit einem Blick hinter die Kulissen seines Schaffens. Im Interview mit Rüdiger Singer eröffnet der Regisseur und Autor Stefan Lukschy einzigartige Einblicke in die Gedankenwelt des großen deutschen Humoristen und seine Sicht auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft.

Ob als Marschmusik-Enthusiast Opa Hoppenstedt, Muttersöhnchen Paul Winkelmann oder Herr Müller-Lüdenscheidt in der Hotel-Badewanne: Seit den 1950er Jahren begeisterte Bernhard Victor „Vicco“ von Bülow (1923-2011), besser bekannt unter seinem Künstlernamen Loriot, die deutsche Nachkriegsgesellschaft mit seinen Cartoons und Sketchen.

Doch Loriot war nicht „nur“ Humorist, sondern auch Beobachter und Kritiker seiner Zeit. Treffend konstatierte der Kulturhistoriker Christoph Stölzl im Nachwort zu Loriots Gesammelter Prosa: „Wenn man die Geschichte unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg schreiben wird, kann man getrost auf die Tonnen bedruckten Papiers der Sozialforscher verzichten und sich Loriots gesammelten Werken zuwenden: Das sind wir, in Glanz und Elend.“

Loriot gibt Autogramme in der Buchhandlung Hugo Dawartz in der Holtenauer Straße 114
Vicco von Bülow 1971 bei einer Autogrammstunde (Foto: Friedrich Magnussen, Stadtarchiv Kiel, CC BY-SA 3.0 DE)

Am 12. November 2023 wäre Vicco von Bülow 100 Jahre alt geworden. Pünktlich zu diesem Jubiläum erscheint bei De Gruyter das Buch Loriot und die Bundesrepublik hervorgegangen aus einer gleichnamigen Tagung, die sich mit Loriots Blick auf die Geschichte und Sozialstruktur der alten BRD auseinandersetzte.

Neben einer Vielzahl interdisziplinärer Perspektiven auf Loriots Werk enthält der Band Auszüge aus einem Interview des Literaturwissenschaftlers Dr. Rüdiger Singer mit einem langjährigen Weggefährten Loriots: dem Regisseur und Autor Stefan Lukschy. Im Jahr 1975 begann Lukschy seine Zusammenarbeit mit Loriot als Regieassistent und sollte ihn fast vier Jahrzehnte lang als Dramaturg, Cutter und Co-Regisseur begleiten.

In einem ebenso tiefgründigen wie zwanglosen Gespräch gab Lukschy Einblicke in Loriots Humorverständnis, seine Vorbilder und Inspirationsquellen, den Sketch „Weihnachten bei Hoppenstedts“ als Spiegel der kleinbürgerlichen Nachkriegsgesellschaft (siehe den folgenden Textauszug) und vieles mehr.

Das komplette Interview ist als Video verfügbar.

Textauszug

Rüdiger Singer: [Manchmal gibt es bei Loriot eine Lust am] ungezogenen Humor.

Stefan Lukschy: Ja klar, absolut. Die Behauptung, Loriot sei ein Komiker ohne Unterleib, das stimmt nicht.

RS: Bei „Weihnachten bei den Hoppenstedts“ finde ich es frappierend, dass wir dieses Ehepaar haben, das zwanghaft Harmonie [haben] und sein Programm durchziehen will. Offenbar haben sie Geld gemacht und müssen ganz viele Geschenke kaufen. Und dann gibt es zwei, die das [Ganze] sabotieren. Das eine ist Dicki – wo im Übrigen programmatisch unklar ist, ob es ein Junge oder Mädchen ist – und das andere ist Opa Hoppenstedt, der seine Marschmusik hört.

SL: Ja, transgenerationelles Chaos.

RS: Und die, die [altersmäßig] in der Mitte sind, werden in die Zange genommen, von den Alten und den Jungen, die sich nicht einlassen auf dieses Weihnachtsspiel.

SL: Was aber auch ganz wichtig ist, ist die Planung der beiden [Ehepartner Hoppenstedt]: „Erst schmücken wir den Baum und dann packen wir die Geschenke aus und dann machen wir es uns gemütlich.” Sagt der andere: „Nein. Erst machen wir es uns gemütlich und dann…“ Also, es wird die Frage diskutiert, wann man es sich gemütlich macht. Das ist natürlich absurd.

RS: Aber „Es ist gemütlich ist eine Beschwörung. Ich glaube deshalb ist dieser Hoppenstedt-Sketch auch einer der bekanntesten. Es ist ein Klassiker, aber auch gleichzeitig einer der subversivsten. Auch wenn das vielleicht nicht so ganz klar ist. Die ganze Zeit, wo [Lieselotte Hoppenstedt] immer sagt: „Ach, ist das gemütlich”, um nicht zuzulassen, dass alles auseinanderbricht…

SL: Es ist überhaupt nicht gemütlich. Es ist einfach schrecklich, was in dieser Familie abläuft. Aber das guckt man sich dann zuhause, wenn man es sich selbst zu Weihnachten gemütlich macht, wahnsinnig gerne im Fernsehen an und delektiert sich an dem Unglück der anderen.

RS: Wir machen das nämlich besser. Unsere Weihnachten sind wirklich gemütlich.

SL: Genau, aber eine halbe Stunde später brennt der Baum auch.

RS: Das ist ein Grundvorwurf, den Loriot immer wieder gehört hat. Er selbst hat gesagt, er will eben keine Satire, die die Leute vor den Kopf stößt, sondern sie sollen erst mal gar nicht merken, dass sie da eigentlich selbst karikiert werden.

SL: Er hat immer darauf bestanden, dass die Leute über sich selbst lachen. Bei ihm stand natürlich auch der traditionelle Weihnachtsbaum zu Hause. Er hat vieles aus seiner eigenen [Sozialisation übernommen]. Er kam aus einer adeligen Familie, aber im Grunde genommen war es ein bürgerliches Setting. Sowohl in seiner Jugend als auch später spielte dieses Adelige keine große Rolle bei ihm. Aus diesem Erfahrungsschatz des bürgerlichen Familienlebens entwickelte er dann seine Figuren und seine Szenarien.

RS: Das war bei der Tagung auch eine Tendenz, Loriot als Erzieher [zu lesen]; Loriot, der es uns möglich macht …

SL: … den Spiegel vorzuhalten.

RS: Ja genau. Um so zu erkennen, wie starr wir an gewissen Formen festhalten, die aber keinen Sinn haben; und dass wir uns mal ein bisschen locker machen können. Hat er das auch so gesehen? Oder wahrscheinlich war es ihm egal, er hat es einfach gemacht.

„Er war überhaupt kein Zyniker. Er war enttäuscht von der Tatsache … dass diese Welt an Dingen krankt.

SL: Nein, nein… Er wollte die Leute natürlich zum Lachen bringen, aber er wollte ihnen schon den Spiegel vorhalten. Er fand eigentlich das ganze Leben ziemlich grotesk, zumindest in weiten Teilen. Er war dann auch sehr ernsthaft, [beispielweise] in seinen sozialen Bemühungen, mit seiner Stiftung, die er gegründet hat, um Leuten zu helfen. Er war überhaupt kein Zyniker. Er war enttäuscht von der Tatsache, dass doch nicht alles gut ist, sondern dass diese Welt an Dingen krankt. Und es wäre doch alles viel schöner, wenn es anders wäre. Aber es ist halt nicht so und das hat er eingesehen. Dabei war er weder ein Idealist noch ein enttäuschter Idealist, also ein Zyniker, sondern guckte sich das [Ganze] mit mild lächelndem Kopfschütteln an. Er war am ehesten ein Melancholiker, so wie alle großen Humoristen und Clowns immer eine melancholische Komponente haben und keine zynische, wo er sich sagt: „Ha, ha, ha, ich mache euch jetzt mal alle fertig.“ Das war er eben nicht.

RS: Wobei ich da, zum Beispiel, einen großen Unterschied sehe zu dem anderen deutschen Haus-Humoristen, nämlich Wilhelm Busch, bei dem der Humor doch sehr viel düsterer ist und der sehr viel mehr Schadenfreude daran hat, dass Leute leiden.

SL: Alleine Max und Moritz, wie die enden als Hühnerfutter – das geht schon sehr weit. Gut, es gibt bei Loriot auch dieses Adventsgedicht, wo die Försterin den Förster umbringt und die Leiche zerlegt. Auch da gibt es Abgründe. Aber eigentlich geht es auch da nicht um den Mord im Forsthaus und das Zerlegen der Leiche, sondern es geht — und da ist jetzt wieder die Komik – um die Verlogenheit dieser netten Advents-Gedichte. Wenn das Rehlein geht zur Ruh’ und es schneit und die Sterne funkeln… Da war ihm dieser Märchenonkelton im Vortrag ganz wichtig. Er sagte, nur dann ist es komisch, wenn es so lieblich, liebevoll vorgetragen wird.

Wenn man es hört und der Sprache nicht so mächtig wäre, würde man sagen: „Das ist aber ein nettes, kitschiges Weihnachtsgedicht.“ Wenn man dann mal hinguckt, was da eigentlich genau passiert, ist es natürlich das absolute Grauen. Da sind wir bei Stephen King.

RS: Und es wird ja auch vorgelesen von einer Figur, deren Gestik, Mimik ganz genau karikiert wird.

SL: Ein Zeichentrickfilm von einem Opa im Ohrensessel mit einem Buch, der mit wahnsinnig netter Großvaterstimme dieses Gedicht vorliest.

[Titelbild: Vicco von Bülow 1971 bei einer Autogrammstunde; Wikimedia Commons/CC BY 2.0 Deed]

Stefan Lukschy

Stefan Lukschy ist freier Regisseur und Autor für Kino- und Fernsehfilme. 1975 begann er als Regieassistent für Loriot zu arbeiten und begleitete ihn fast 40 Jahre lang als Dramaturg, Cutter und Co-Regisseur bei den meisten seiner Produktionen. Er ist Autor des Buchs „Der Glückliche schlägt keine Hunde: Ein Loriot Porträt“ (Aufbau Verlag).

Rüdiger Singer

Der Literaturwissenschafter Dr. habil. Rüdiger Singer ist Senior Research Fellow am Trier Center for Digital Humanities. Dort untersucht er rhetorikrelevante Muster von Karikaturen in Satirezeitschriften des 19. Jahrhunderts und Zeitungen der Gegenwart.
https://textbild.hypotheses.org/

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