Gegen die Katastrophe erzählen: 9/11 in der Literatur
Vor zwanzig Jahren steuerten zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York. Seitdem wurde die Geschichte des 11. Septembers 2001 unzählige Male erzählt – nicht zuletzt in der Literatur. Dabei kreisen viele Texte um eine schwer auszuhaltende Erkenntnis: dass die Anschläge ‚einfach so‘ passierten, dass sich dem Leiden der Opfer und der Überlebenden kein Sinn zuschreiben lässt.
Bilder, die man nicht glaubt
Die Anschläge vom 11. September waren das erste globale Medienereignis des 21. Jahrhunderts und wurden live in die ganze Welt übertragen. Dabei sind es vor allem die Flugzeuge, die aus heiterem Himmel kommen sowie die brennenden und dann einstürzenden Türme, die sich als Fernsehbilder ins kollektive Gedächtnis einprägen. Auch in der Literatur über 9/11 werden diese Bilder häufig aufgerufen. So sieht der Ich-Erzähler in Ulrich Peltzers Roman Bryant Park (2002) „auf allen Kanälen plötzlich Bilder […], die man nicht glaubt, gigantische Staubwolken, einstürzende Wolkenkratzer, Boeing-Flugzeuge, die in Hochhäuser rasen“.
“Das kollektive Trauma, als das 9/11 oft bezeichnet wird, hat viel mit dem Gedanken zu tun, dass eine solche Katastrophe ‚einfach so‘ geschieht.”
Noch während diese Fernsehbilder ausgestrahlt werden, wurde über die Anschläge in New York bereits als „Jahrhundertkatastrophe“ und „Zäsur“ gesprochen. Ein Gedanke dominierte auch die deutschsprachigen Medien in den ersten Tagen nach dem 11. September: Es wird nichts mehr so sein wie es war. Der Bruch wird nicht nur auf historischer und politischer Ebene festgestellt. Die Ereignisse sprengen auch den Rahmen dessen, was bisher als möglich gedacht wurde: Dass Passagierflugzeuge in Gebäude fliegen und mehr als 2.000 Menschen unter den Trümmern eines Wolkenkratzers begraben werden, der niemals hätte einstürzen sollen – das war unvorstellbar und unvorhersehbar. Das kollektive Trauma, als das 9/11 oft bezeichnet wird, hat viel mit dem Gedanken zu tun, dass eine solche Katastrophe ‚einfach so‘ geschieht. Die Literatur verarbeitet dieses Trauma, indem sie das Geschehen und seine Folgen ordnend und sinnstiftend erzählt, aber auch die Grenzen der Sinnstiftung schmerzhaft sichtbar macht.
Die ersten Texte über 9/11 sind Berichte in Zeitungen und Zeitschriften. Diese Berichte sortieren zum einen die chaotischen Ereignisse zu linearen Abläufen und stiften so Ordnung. Zum anderen konkretisieren und veranschaulichen sie das unfassbare Ausmaß der Anschläge anhand von Einzelschicksalen von Betroffenen und Davongekommenen. Dabei steht oft im Zentrum, wie kontingent das Geschehen ist. Kontingent nennen wir, verkürzt gesagt, etwas, was auch anders hätte kommen können. Katastrophen sind höchst kontingent, da es oft nur von Zufällen abhängt, wer wann und wo von ihnen betroffen wird und wer davonkommt. Kontingente Ereignisse, und Katastrophen ganz besonders, widersetzen sich der Sinngebung, denn sie lassen sich nicht mit Notwendigkeit erklären. Gleichzeitig provozieren Katastrophen in besonderem Maß Versuche, aus dem Geschehen irgendeinen Sinn abzuleiten bzw. diesen zu erzeugen. Das kann man auch an der Literatur über 9/11 sehen.
die uralten Deutungsmuster
Die Texte über den 11. September und seine Folgen machen das Trauma von 9/11 als Kontingenzschock sichtbar, erzählen aber auch von Möglichkeiten Kontingenz zu begegnen oder gar abzuwehren. Dabei greifen sie auf uralte Muster bis hin zur schicksalhaften Fügung und der (göttlichen) Vorsehung zurück und klopfen diese auf ihre Gültigkeit ab.
In seinem „Tagebuch-Essay“ Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt (2001) beobachtet der Lyriker Durs Grünbein, wie der automatisch einsetzende „Sinngebungsbetrieb“ ins Leere läuft. Dass sofort größtmögliche – etwa biblische – Zusammenhänge aufgerufen werden, um das Ereignis an Bekanntes anzuschließen, zeigt vor allem, wie verführerisch einfach diese bekannten Deutungsmuster sind. In Grünbeins Gedichtzyklus September-Elegien (2002) geht es um die Einordnungsversuche nach der Katastrophe und mit einem gewissen Abstand. Immer noch prüft der Blick zum Himmel, ob sich dort nicht doch eine Sinngebungsinstanz verbirgt: „Verschämt sieht man manchmal zum Himmel auf. Was dort fliegt, / Könnte ein Erzengel sein, unterwegs zum gewohnten Fanal.“
“In der Literatur über 9/11 und die Folgen zeugt [der Blick zum Himmel] davon, dass die Fragen nach einer Katastrophe auch im 21. Jahrhundert noch dieselben sind wie vor 300 Jahren.”
Dass Texte über 9/11 solche uralten Deutungsmuster reaktivieren, mag auf den ersten Blick überraschen. Schließlich erwartet man von der Literatur des 21. Jahrhunderts eher achselzuckende Kontingenzoffenheit und gelassene Diesseitigkeit. Aber selbst in höchst ironische und betont säkulare Texte schleicht sich der Gedanke an Gott ein. Wo war der eigentlich, lautet die durchaus ernst gemeinte Frage, und warum hat er das zugelassen? Diese Frage ist als Theodizee (‚Gerechtigkeit Gottes‘) fester Bestandteil von Katastrophendiskursen seit dem 18. Jahrhundert. Diese Diskurse speisen sich, wie Carsten Meiner und Kristin Veel in ihrem Band The Cultural Life of Catastrophes and Crises (2012) feststellen, aus einem kollektiven Fundus der immer gleichen kulturell tradierten Wahrnehmungs- und Verständnismuster.
Wenn man die Texte über 9/11 als Teil dieses übergeordneten Katastrophendiskurses betrachtet, ist der ‚Blick zum Himmel‘ nicht mehr so überraschend. In der Literatur über 9/11 und die Folgen zeugt er davon, dass die Fragen nach einer Katastrophe auch im 21. Jahrhundert noch dieselben sind wie vor 300 Jahren. Die Antworten werden jedoch nicht mehr mit der umfassenden Gültigkeit gegeben, die z.B. das Prinzip Gott hat, sondern vorsichtiger: auf der Ebene individueller Handlungsspielräume und mit Verweis auf die Bedeutung des Erzählens.
Was man tun kann
Nach den Berichten erscheinen schon nach weniger als einem Jahr die ersten fiktionalen Texte über 9/11. Diese überwinden die Grenzen, die den dokumentarischen Formen gesetzt sind und erzählen aus dem Inneren der Ereignisse. Eva Horn stellt in ihrer Studie Zukunft als Katastrophe (2014) fest, dass solche fiktionalen Katastrophenszenarien „einen Blick auf die Kontingenz und Willkür im Inneren jener scheinbar schicksalhaften Notwendigkeiten [eröffnen], die im Angesicht des Desasters so oft beschworen werden“. Die 9/11-Romane machen diese Kontingenzproblematik und die von ihr ausgelösten Deutungsimpulse nicht nur über ihre Thematik sichtbar, sondern auch über ihre Erzählformen. Sie spielen z.B. mit unterschiedlichen Perspektiven auf die Ereignisse und unterlaufen damit die Deutungshoheit einer allwissenden Erzählinstanz. Darüber hinaus rufen sie traditionelle linear-ordnende Erzählstrukturen auf, die auf ein zwangsläufiges Ende ausgerichtet sind, aber führen sie auch in die Irre.
So ist die Handlungsstruktur von Jonathan Safran Foers Roman Extremely Loud & Incredibly Close (2005) als Suche angelegt: Der 9-jährige Ich-Erzähler Oscar folgt den Spuren, die sein am 11. September verstorbener Vater hinterlassen hat – in dem festen Glauben, am Ende verstehen zu können, was passiert ist und warum. Diese zielgerichtete Struktur wird aber dadurch unterlaufen, dass das Ende der Suche keine Antworten bereitstellt. Sinn ergibt sich nicht automatisch, sondern muss stattdessen von Oscar selbst hergestellt werden. Wie andere Romane über 9/11 und seine Folgen erteilt auch Extremely Loud & Incredibly Close einer pauschalen Sinngebung, wie sie die traditionellen Deutungsmuster Fügung oder Vorsehung leisten konnten, eine deutliche Absage. „Making sense“ ist stattdessen ein aktiver und höchst individueller Prozess, der auf dem Erkennen und Erarbeiten von individuellem Handlungs- und Entscheidungsspielraum basiert.
“Es wird nicht alles wieder gut. Aber es kann im Moment wieder gut sein, so wie es ist.”
In der 9/11-Literatur und generell in literarischen Katastrophendiskursen seit der Moderne wird dieser Spielraum relativ klein gedacht: als gedankliche Haltung zu einem unabwendbaren Widerfahrnis, das durch seine Kontingenz schwer zu akzeptieren ist. Albert Camus hat in seinem Aufsatz über den Mythos des Sisyphos geschrieben: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“. Das absurde Glück des zum sinnlosen Steinrollen verdammten Sisyphos speist sich ebenfalls aus einem von außen sehr klein erscheinenden Spielraum des Verhaltens zu einer nicht selbst gewählten Situation. Das hat nichts mit stoischem Ertragen zu tun, sondern mit aktiver Aneignung der Geschehnisse, die damit zu einem Teil des eigenen Lebens werden. In Extremely Loud & Incredibly Close findet Oscar Bedeutung in der Reise durch sein Trauma, im Gehen einzelner Schritte und in der Erkenntnis, dass Sinngebung den erfahrenen Schmerz nicht aufhebt. Es wird nicht alles wieder gut. Aber es kann im Moment wieder gut sein, so wie es ist.
Sinnstiftung und Bedeutungsvermeidung
Auch in den zahlreichen Texten, in denen 9/11 nicht im Zentrum der Handlung steht, sondern als Hintergrundereignis eingebaut wird, werden die Anschläge als historische wie weltanschauliche Zäsur reflektiert. Diese Zäsur löst eine Reihe von Reflexionen aus: über Sinngebung, die Möglichkeit einer höheren Instanz, aber auch über die Bedeutung des gelebten Lebens und die Kontingenz getroffener Entscheidungen.
“Menschen halten es nicht aus, wenn Dinge keinen Sinn ergeben, erst recht nicht, wenn es sich um schlimme Dinge oder gar letzte Dinge handelt.”
Michael Kleebergs Roman Vaterjahre (2014) erzählt den 11. September in seinem Schlusskapitel als Schicksalstag, an dem der Protagonist Charly Renn – obwohl in Hamburg in Sicherheit – mehrfach mit dem unausweichlichen Verhängnis der Sterblichkeit konfrontiert wird: durch die Anschläge in New York und durch die vergleichsweise banale Gewissheit, dass am Abend sein Hund eingeschläfert werden muss. Dabei wird die globale Katastrophe von der privaten überschattet. Vor der Folie des Hintergrundereignisses 9/11 wirft der Tod des Hundes die Frage auf, was das Leben bedeutet hat und ob man sich gut geschlagen hat. Die Antwort findet der Protagonist wiederum im kleinsten aller Spielräume – im Erzählen des gemeinsam gelebten Lebens gegen die Sterblichkeit: „Singt und erzählt, denn wer redet, ist nicht tot.“
Ein Beispiel für eine misslungene Sinngebung, das die dringende Notwendigkeit von Bedeutung aber umso deutlicher erkennen lässt, findet sich schließlich in Katharina Hackers Roman Die Habenichtse (2006). Hier begegnen sich die Hauptfiguren Jakob und Isabelle ausgerechnet am 11. September 2001 wieder und werden ein Paar. Der Anwalt Jakob hätte zum Zeitpunkt der Anschläge eigentlich einen Termin im World Trade Center gehabt, den ein Kollege übernimmt. Die Frage, ob dieser Kollege ‚an seiner Stelle‘ gestorben ist und ob es damit einen schicksalhaften Zusammenhang zwischen diesen beiden Leben gibt, drängt sich auf. Die Figuren des Romans wehren solche schicksalhaften Zusammenhänge allerdings aktiv ab, obwohl die Erzählinstanz immer wieder deutlich macht, dass es sie gibt. Man müsste nur die Hand ausstrecken und danach greifen – aber Jakob und Isabelle schrecken davor zurück, den Ereignissen in ihrem Leben aktiv Bedeutung zuzuschreiben. Vor dem Hintergrund der Katastrophe 9/11, die als Zäsur und Bruch eine aktive Sinngebung so dringend macht, zeigt der Text, dass diese „unerbittliche Ziellosigkeit“ ein schwerer Mangel ist. In Anlehnung an Milan Kundera könnte man das Ergebnis der aktiven Bedeutungsvermeidung eine „unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ nennen.
Unerträglich ist dieser Zustand letztlich auch für die Figuren in Die Habenichtse: „Wie halten wir das nur aus?“ fragt sich eine der Figuren kurz, ohne jedoch aus dieser Frage tatsächlich Konsequenzen zu ziehen. Die Antwort darauf legt der Roman selbst nahe: Gar nicht. Menschen halten es nicht aus, wenn Dinge keinen Sinn ergeben, erst recht nicht, wenn es sich um schlimme Dinge oder gar letzte Dinge handelt. In seinem Buch Das Böse oder das Drama der Freiheit (1997) spricht Rüdiger Safranski vom „Skandal des Bedeutungslosen, der Kontingenz“. Gegen diesen Skandal begehrt die Literatur über 9/11 auf, indem sie vom dringenden Bedürfnis nach Sinn und Bedeutung erzählt. Glücklicherweise geht es in diesen Texten aber nicht nur um den unerträglichen Mangel an Sinn, sondern auch um die scheinbar so kleinen Spielräume, in denen Bedeutung gewonnen werden kann – trotz aller Katastrophen.
Erfahren Sie mehr in diesem Titel von De Gruyter
[Title image by Terraxplorer, E+ collection, Getty Images]