„Die Buchhändler-Emigration hat auf der ganzen Welt Spuren hinterlassen”: Ernst Fischer im Interview
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung flüchteten mehrere hundert Antiquare, Buchhändler und Verleger aus Deutschland und Österreich. Buchwissenschaftler Ernst Fischer geht den Lebensspuren dieser Menschen nach.
Dieses Interview wurde erstmals im Börsenblatt 3/2021 (S. 26 f.) mit dem Titel „Schicksalsgeschichte(n)“ veröffentlicht und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Seit 40 Jahren beschäftigt sich Ernst Fischer mit Exilforschung. Grund genug für ein Interview – vor allem zum Mammutwerk »Der Buchhandel im deutschsprachigen Exil 1933 – 1945«, das der Buchwissenschaftler jetzt veröffentlicht hat.
Mit der Buchreihe »Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert« erforscht die Historische Kommission des Börsenvereins die Vergangenheit der Branche, mit all ihren Licht- und Schattenseiten.
Der Buchwissenschaftler Ernst Fischer, der bis 2014 in Mainz gelehrt hat, ist Mitglied der Historischen Kommission – und hat jetzt den dritten Teil des dritten Bandes herausgebracht, der sich mit dem Buchhandel im deutschsprachigen Exil zwischen 1933 und 1945 beschäftigt. Dazu erscheint in zweiter Auflage ein Handbuch, in dem Fischer Lebensgeschichten im Exil nachzeichnet.
Börsenblatt: Welche Dimension hat die Emigration aus Deutschland und Österreich nach 1933 im Verlagsbereich und im Buchhandel?
Ernst Fischer: Das von mir erstellte biografische Handbuch zur Emigration der Verleger, Buchhändler und Antiquare nennt in der zweiten Auflage die Namen von rund 900 Personen, die aus Deutschland, aber auch aus dem 1938 annektierten Österreich geflüchtet sind. Das Handbuch berücksichtigt allerdings auch jene, die erst im Exil zum Verleger- oder zu einem buchhändlerischen Beruf dazugestoßen sind. Das prozentuale Verhältnis von Verlegern, Buchhändlern und Antiquaren schätze ich dabei grob auf 45 zu 35 zu 20.
BB: Seit wann beschäftigen Sie sich mit der Thematik?
EF: Thema meiner 1978 in Wien approbierten Dissertation war der Schutzverband Deutscher Schriftsteller von 1909 bis 1933. Im Anschluss daran habe ich die Geschichte dieses Verbands im Pariser Exil weiterverfolgt, und dies hat mich in den Bereich der Exilforschung hineingeführt. Dem Interesse am schriftstellerischen Exil folgte das Interesse am verlegerischen und buchhändlerischen Exil. In summa bin ich also seit 40 Jahren mit der Thematik befasst …
BB: Wie verhalten sich die zweibändige Darstellung »Der Buchhandel im deutschsprachigen Exil 1933 – 1945« und das als Supplement bezeichnete Handbuch zueinander?
EF: Darstellung und Supplement stehen in einem komplementären Verhältnis. In der Buchhandelsgeschichte geht es darum, Strukturen und Entwicklungszusammenhänge zu untersuchen und dabei die Tätigkeit verlegerischer und buchhändlerischer Unternehmen in den Vordergrund zu rücken. Die Vertreibung ins Exil ist allerdings zuallererst ein persönliches Schicksal, der biografische Aspekt darf nicht ausgeblendet bleiben.
Die Lösung dafür war, die Darstellung von Lebensgeschichten samt den dazugehörigen Quellen- und Literaturnachweisen in einen eigenen Band auszulagern. Das Handbuch bietet ergänzend jene Informationen, die in der historiografischen Darstellung oft nur angedeutet werden.
BB: Das Handbuch ist eine zweite Auflage; was ist der Hintergrund für die Neuauflage?
EF: Nach dem Erscheinen der ersten Auflage Anfang 2011 habe ich – wie erhofft – einige Zuschriften mit Korrekturen und Ergänzungsvorschlägen erhalten, bin aber im Zuge der Fertigstellung der Darstellungsbände auch selbst auf neue Erkenntnisse gestoßen. Zudem sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Forschungsbeiträge erschienen, aus denen ich biografische Information schöpfen konnte, und nicht zuletzt haben sich die Online-Recherchemöglichkeiten weiter verbessert. Auf diese Weise konnten dem Handbuch 80 neue Personeneinträge hinzugefügt und Lebensdaten vielfach ergänzt werden.
„Die Buchhändler-Emigration hat auf der ganzen Welt Spuren hinterlassen.”
BB: An wen richten sich Ihre Publikationen?
EF: Zur Zielgruppe gehören zunächst alle, die Interesse an diesem hochdramatischen Abschnitt in der Geschichte des Buchhandels in Deutschland und Österreich haben, von Buchhandels-, Literatur-, Politik- und Wissenschaftshistoriker*innen bis zu Exilforscher*innen, aber auch alle, die selbst im buchhändlerischen Metier tätig sind. Es ist vorstellbar, dass die Rezeption der Publikationen über den deutschsprachigen Raum hinausgeht, denn die Buchhändler-Emigration hat auf der ganzen Welt Spuren hinterlassen.
Tatsächlich versteht sich das Werk als Beitrag zu einer Globalgeschichte des Buchhandels, insofern die vertriebenen Verleger, Buchhändler und Antiquare an ihren neuen Wirkungsstätten, besonders in Großbritannien, den USA und Lateinamerika, für einen Internationalisierungsschub gesorgt haben. Das betrifft unter anderem das Wissenschafts-, Kunst- und Musikverlagswesen. Man denke aber auch an die herausragende Rolle der von Exilanten gegründeten Literarischen Agenturen.
BB: Wo gibt es aus Ihrer Sicht noch Forschungsbedarf?
EF: Trotz des beträchtlichen Umfangs der drei Bände gibt es fast unbegrenzte Möglichkeiten, das Themenfeld aus unterschiedlichen Blickwinkeln und methodischen Perspektiven zu beleuchten. Vielleicht können die Bände den Anreiz dazu bieten. Vor allem aber sollte nicht vergessen werden, dass es neben den Vertriebenen auch eine große Zahl von Verlegern, Buchhändlern und Antiquaren gegeben hat, die in Konzentrationslagern ermordet oder auf andere Weise in den Tod getrieben wurden. Beispiele dafür werden zwar in meiner Darstellung genannt, es sollte aber eine systematische Aufarbeitung dieses dunkelsten Kapitels deutscher Buchhandelsgeschichte vorgenommen werden.
BB: Sehen Sie aktuelle buchwissenschaftliche Anknüpfungsmöglichkeiten für Ihre Arbeit?
EF: Anknüpfungsmöglichkeiten gibt es in einem sehr praktischen Sinne, wie ich allein schon den Anfragen entnehme, die mich bereits jetzt erreichen. Kolleg*innen aus der Wissenschaft, aber auch Antiquare können offenbar mit den gebotenen Informationen etwas anfangen, für Forschungsvorhaben ebenso wie für Katalogbeschreibungen. Ob meine Arbeit in einem mehr paradigmatischen Sinne etwas bewirkt, etwa im Bereich der aktuellen Migrationsforschung, bleibt abzuwarten. Man sollte sich in diesem Zusammenhang vor Augen halten, dass die Vorgänge nach 1933 ein welthistorisch singulärer Vorgang waren, der nur bedingt Vergleichsmöglichkeiten bietet.
Wofür das vorliegende Werk in jedem Fall gewisse Anschlussmöglichkeiten bereithält, ist die Fortsetzung der Buchhandelsgeschichte in die Zeit nach 1945; diese wird von der Historischen Kommission derzeit vorbereitet.
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[Title Image by Lysander Yuen via Unsplash]