10 Jahre Open-Access-Bücher bei De Gruyter: Michael Navratil und sein Gewinnertitel „Kontrafaktik der Gegenwart”
Anlässlich des 10-jährigen Jubiläums unserer ersten Open-Access-Buchveröffentlichung riefen wir einen Wettbewerb aus. Einer der Preisträger ist der Literaturwissenschaftler Michael Navratil. Im Interview stellt er sich und seinen Gewinnertitel vor.
Im Jahr 2010 erschien De Gruyters erstes Open-Access-Buch – für uns ein guter Grund zu feiern und die Welt daran teilhaben zu lassen. Wir riefen einen „Call for Proposals“ aus und ließen ein Expertengremium 10 Buchvorschläge auswählen, die nun kostenlos im Open-Access-Modell veröffentlicht werden.
Die 10 Preisträger und Preisträgerinnen verkündeten wir bereits im September, doch damit ist noch nicht Schluss. In kurzen deutsch- oder englischsprachigen Interviews werden wir die Personen, ihre Bücher und ihre Haltung zu Open Access noch etwas besser kennenlernen.
Nach Dominique Haensell (“Making Black History – Diasporic Fiction in the Moment of Afropolitanism”) und Özkan Ezli („Narrative der Migration”) wird uns im Folgenden Dr. Michael Navratil, Autor des Gewinnertitels „Kontrafaktik der Gegenwart: Politisches Schreiben als Realitätsvariation bei Christian Kracht, Kathrin Röggla, Juli Zeh und Leif Randt“, Rede und Antwort stehen.
De Gruyter: Bitte stellen Sie sich kurz vor!
Michael Navratil: Mein Name ist Michael Navratil. Ich bin Literaturwissenschaftler. Ab 2008 habe ich in Freiburg, Oxford und Berlin Germanistik, Anglistik und Philosophie studiert. Kontrafaktik der Gegenwart ist die Buchfassung meiner Doktorarbeit, mit der ich 2020 an der Universität Potsdam promoviert wurde. In meiner Forschung befasse ich mich einerseits mit Themen im Kontext der Dissertation: also mit der Fiktionstheorie, Fragen des politischen Schreibens und der Gegenwartsliteratur. Ich beschäftige mich aber auch viel mit der Literatur der Moderne, mit der Verbindung von Literatur und Körperdiskursen – im Hinblick etwa auf die Themen Psychologie, Gesundheit oder Sexualität – und mit der Geschichte und Medialität des Dramas.
DG: Worum geht es in Ihrem Buch?
MN: Mein Buch beschäftigt sich mit Erzählverfahren innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die sich durch einen politischen Anspruch einerseits und eine spezielle Form des realitätsvariierenden Erzählens andererseits auszeichnen. Für letztere schlage ich den Begriff ‚Kontrafaktik‘ vor. In Werken der fiktionalen Alternativgeschichte, aber auch in vielen Dystopien, Dokufiktionen, Autofiktionen, Satiren und Schlüsselromanen wird zwar auf Fakten der realen Welt Bezug genommen; doch geschieht dies nicht, indem diese Fakten innerhalb der jeweiligen fiktionalen Welten direkt wiedergegeben werden, sondern indem sie dort in künstlerisch variierter Form erscheinen. In Werken der Alternativgeschichte etwa nehmen Kriege häufig einen von der Realität abweichenden Ausgang. Mein Buch bietet eine fiktionstheoretische Grundlegung der Kontrafaktik, argumentiert für eine enge Verbindung von Kontrafaktik und dem Politischen und vermittelt in umfangreichen Interpretationen ausgesuchter Werke von Christian Kracht, Kathrin Röggla, Juli Zeh und Leif Randt einen Eindruck von den konkreten Einsatzmöglichkeiten einer Kontrafaktik der Gegenwart als Verfahren politischen Schreibens.
“Die Studie verbindet in anspruchsvoller Weise zwei zentrale Debatten der Gegenwartsliteraturen, die Frage des realistischen Schreibens und des Politischen. Herr Navratil bietet einen ausgesprochen innovativen Theorieansatz und schließt daran vier einschlägig ausgewählte und hervorragend gelungene Einzelstudien an.”
DG: Woher kam der Impuls, Ihr Buch im Open-Access-Modell publizieren zu wollen?
MN: Das Open Access-Model erscheint mir aus zwei Gründen besonders reizvoll. Erstens führe ich mit der ‚Kontrafaktik‘ ja ein terminologisch und auch inhaltlich neues Konzept in die Literaturwissenschaft und Fiktionstheorie ein. Ihre Produktivität müssen derartige Neuerungsvorschläge aber letztlich immer in der Adaption durch andere Forscher*innen erweisen. Eine Open Access-Publikation erleichtert den Zugriff auf meine Theoretisierungsvorschläge enorm, sodass auch die Chancen einer produktiven Aneignung erhöht werden.
Zweitens habe ich die Hoffnung, dass diverse Überlegungen meines Buches auch für Leser*innen außerhalb der Fachwissenschaft von Interesse sein werden. Gerade Fragen der politischen Kunst stoßen gegenwärtig auf große öffentliche Aufmerksamkeit; die Werke und politischen Positionierungen von Autor*innen wie Juli Zeh oder Christian Kracht lösen breite, zum Teil durchaus kontroverse Diskussionen aus. Mein Buch schaltet sich von einer literaturwissenschaftlichen Warte in diese Diskussionen ein: Es will einen Beitrag zu derzeit so vieldiskutierten Fragen wie die nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion, nach der politischen Kunst der Gegenwart oder nach den aktuellen Möglichkeiten politischer Autorschaft leisten. Tatsächlich ist bereits geplant, Ausschnitte meiner Interpretation zu Juli Zehs Corpus Delicti im Kontext der Abitur-Vorbereitung in Baden-Württemberg zu verwenden. Angesichts der hohen gegenwartspolitischen Relevanz, die zahlreiche Themen von Kontrafaktik der Gegenwart aufweisen, ist es besonders erfreulich, dass durch die Open-Access-Publikation ein hürdenfreier Zugriff auf mein Buch ermöglicht wird.
[Title Image by Marc-Olivier Jodoin via Unsplash]